Anne Weber: Annette, Ein Heldinnen-Epos

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Mit ihrem Buch „Annette, Ein Heldinnen-Epos“ hat Anne Weber den Deutschen Buchpreis 2020 gewonnen. Und das sehr zu Recht.

In diesem Epos – sie nennt den Text nicht Roman! – erzählt Anne Weber die Geschichte der heute über 90-jährigen französischen Widerstandskämpferin Anne Beaumanoir.

Anne Weber hat Annette zufällig bei einer Podiumsdiskussion kennen gelernt, bei der sich die alte Dame sehr energisch eingebracht hat. Anne Weber war so fasziniert von dieser Persönlichkeit, dass sie Kontakt aufgenommen hat und sich vieles hat erzählen lassen über ihr ungewöhnliches Leben.

Anne Beaumanoir hat ihre Lebensgeschichte auch selbst aufgeschrieben und in zwei Bänden veröffentlicht: Band 1, Leben für Gerechtigkeit. Erinnerungen 1923 bis 1956; Band 2, Kampf für Freiheit. Algerien 1954 bis 1965.

Anne Weber geht es in ihrem Epos darum, Annettes enormen inneren Antrieb herauszuarbeiten, der sie dazu bringt, die große Sache über ihr persönliches und privates Leben zu stellen.

Als Erzählerin begleitet sie die Darstellung mit Fragen und Kommentaren, die versuchen Annettes Handlungsweise zu verstehen oder auch in Frage zu stellen. Die Leser und Leserinnen erwartet nicht ehrfürchtige Bewunderung seitens der Erzählerin, vielmehr eine durchaus kritische Sicht, die Distanz zu ihrer Figur, d. h. auch zu der tatsächlich lebenden Person, wahrt.

Anne Weber sieht aus dieser Distanz Annette in zwar bescheidenen Verhältnissen in der Bretagne aufwachsen, jedoch getragen von der Liebe glücklicher Eltern.

Schon früh erfährt sie über die Eltern, was es heißt, sich für andere zu engagieren. Der Vater ist bekennender Sozialist, der den Kommunisten nahesteht. Für die 13-järige Annette ist es eine wichtige Erfahrung, dass ihre Eltern sich Ende der 30er Jahre für Flüchtlinge aus dem faschistischen Italien und aus dem Bürgerkriegsland Spanien einsetzen.

Die Romanfiguren André Malrauxs, die den Einsatz für den Freiheitskampf über ihr eigenes Leben stellen, beeindrucken schon die 15-jährige. Die deutsche Besetzung Frankreichs zündet dann bei der inzwischen 17-jährigen den ersten Funken der Bereitschaft zum Widerstand. Eher ein Zufall führt sie in die aktive Widerstandsszene, als ein französischer Kriegsgefangener sie um Besorgung eines Päckchens bittet.

„… Denn wie das meiste / ist auch das Widerstehen anders, als man es sich / denkt, nämlich kein einmaliger Entschluss, / kein klarer, sondern ein unmerklich langsames / Hineingeraten in etwas, wovon man / keine Ahnung hat. …“, kommentiert die Erzählerin.

Dieses langsame Hineingeraten wird kennzeichnend für Annettes Weg in den Kampf gegen Herrschaft und Ungerechtigkeit. Zunächst geht sie als Medizinstudentin nach Rennes, gerät dort in den Umkreis der Parti Communiste Français und übernimmt kleine Kurierdienste.

Die nächste Etappe ist Paris, wo sie aktiv im Widerstand arbeitet.

Mit unglaublicher Intensität erzählt Anne Weber über diese Lebensphase, in der die persönliche Liebesbeziehung und der Parteiauftrag in Konflikt geraten. Wegen einer humanitären Rettungsaktion entgegen den Richtlinien des Parteiauftrages werden Annette und ihr Gefährte von der Partei fallen gelassen, was die beiden nicht daran hindert, sich einer anderen Widerstandsgruppe anzuschließen.

Diese hochgefährliche Rettungsaktion der Kinder jüdischer Flüchtlinge erzählt Anne Weber mit einer Spannung, dass der Leserin fast der Atem stockt. Es kommt zu der schicksalhaften Situation, dass die Geretteten ungewollt zu den Rettern der Retter werden.

Wie auch in anderen Passagen fragt sich die Erzählerin an dieser Stelle, ob es so etwas wie Schicksal oder gar einen Gott gibt. Schon zu Beginn des Epos, als die Erzählerin Annette vorstellt, konstatiert sie: „Sie glaubt nicht an Gott, aber er an sie. / Falls es ihn gibt, so hat er sie gemacht.“ Eine Antwort überlässt sie ihren Leserinnen und Lesern.

 Anne Weber beschreibt Annettes weiteren Weg im Widerstand als den einer Odyssee. Annette ist schließlich allein, „wie Odysseus … ist sie von ihrer Herkunft, ihrer Geschichte abgetrennt … Wie Odysseus könnte sie … wahrheitsgemäß ‚Ich heiße Niemand‘ sagen.‘“ Dem Dienst an der Sache ordnet sie alles unter, um schließlich auch von der Partei wieder anerkannt zu werden.

Was von außen abenteuerlich klingt, ist tatsächlich ein ödes Leben, das aus Abwarten, Kurierdiensten, Gefahr, Angst und Einsamkeit besteht. Sie opfert mit ihren 20 Jahren alles, was sie bisher an die Gesellschaft gebunden hat, Studium, Freunde, Verwandte, den Geliebten.

Die Erzählerin fragt nach möglichen Motiven für diese Selbstaufopferung, lässt die Antwort offen, offenbar weil es keine eindeutige Erklärung gibt, warum jemand so zu leben bereit ist.

Es ist der Wille zu kämpfen, an wichtiger Stelle dabei zu sein, vielleicht auch der Wunsch, in so einem Kampf zu sterben. Mit Staunen verfolgt Anne Weber dieses Lebenskonzept, das von einer unbändigen Kraft getragen ist. Bis zur Erschöpfung. Die kommt nach der Befreiung Frankreichs, die Odyssee endet zunächst mit der Heimkehr. Doch die ist nur temporär, es wird sie wieder hinaustreiben. Der Unabhängigkeitskampf in Indochina wird eine Möglichkeit, die sich aber zerschlägt.

Also doch wieder Arbeit für die Partei, doch die Ernüchterung nimmt zu, die Erkenntnis der Hörigkeit gegenüber Funktionären, gegenüber fragwürdigen Aufträgen. Gemeinsam mit dem zweiten Mann löst sie sich aus der Partei, es ist das Jahr 1956. Mittlerweile ist Annette Ärztin und Mutter zweier Kinder. Eigentlich sollte sie zur Ruhe kommen.

Das bürgerliche Leben mit „Monsieur le docteur“ als „Madame la doctoresse“ fühlt sich durchaus angenehm an. Der soziale Aufstieg ist gelungen.

Aber der Drang zu kämpfen, eine wichtige Rolle zu spielen im Kampf gegen Herrschaft und Unterdrückung ist ungebrochen. Die Reaktionen der Franzosen auf die Unruhen in Algerien – auch der französischen Kommunisten – empört sie. Ausgerechnet ein in einem katholischen Verlag erschienenes Buch gegen die Folter entfacht ihre Wut auf ihr eigenes Land, das nun selbst SS-Methoden anwendet.

Wieder ist es ein schrittweises Hineinrutschen, diesmal in die algerische Widerstandsbewegung, ohne dass es ein wirklicher Entschluss ist. Irgendwann ist sie mittendrin, kann nicht mehr zurück, wird alles verlieren, was ihr lieb ist. Wird verraten, im Gefängnis einsitzen, das sie nur zur Geburt des dritten Kindes unter Hausarrest verlassen darf. Freunde verhelfen ihr zur Flucht, aber das bedeutet den Beginn einer erneuten Odyssee, diesmal nach Algerien. Ein Zurück nach Frankreich wird ihr für viele Jahre verwehrt sein.

Anne Webers Erzählung des algerischen Unabhängigkeitskampfes aus der Sicht der Widerstandskämpferin führt in eine ganz andere Welt, die Annette selbst kaum versteht und deren politische Zielrichtung ganz anders verläuft, als sie es in ihrer zu Beginn fast naiven Einsatzbereitschaft übersehen kann. Ihr Einsatz gilt den Menschen, denen sie als Ärztin mit selbstloser Aufopferung hilft.

Anne Weber gelingt es, den Leserinnen die Widersprüche innerhalb des algerischen Widerstandskampfes, der nach der Unabhängigkeit in gnadenlose Machtkämpfe übergeht, in ihrer Komplexität vorzuführen. Annette erscheint darin als eine Person, die sich in diesen Fallstricken verliert, keinen Überblick darüber hat, was tatsächlich hinter den Kulissen geschieht, und auch nicht erkennt, in welcher Gefahr sie selbst schwebt.

So endet der Algerien-Einsatz für sie wieder mit Flucht, das heißt in die Einsamkeit; aus Frankreich ist sie noch für Jahre verbannt, der eigenen Familie fremd geworden.

Die Erzählerin zeigt uns dieses Leben, ohne ein Urteil zu fällen. Uns als Leserinnen lässt sie zurück mit der Frage, ob der Kampf für das große Ganze, auch wenn man nur ein kleines Rädchen in diesem Räderwerk ist, wichtiger ist als der Einsatz im kleinen familiären Kreis, bei den Kindern und der Familie.

Anne Weber nennt ihre Erzählung ein „Heldinnen-Epos“, stellt aber implizit die Frage, ob Annette wirklich eine Heldin ist. Ihr Leben ist eine Odyssee, die keine glückliche Heimkehr zulässt. Am Ende ihres Lebens findet sie sich in einem kleinen Ort in Südfrankreich, der Rücken gekrümmt, aber „im Innern ist sie grade“. Noch mit fast 96 Jahren streitet sie für den Ungehorsam.

Anne Webers Erzählung ist von einer mitreißenden Eindringlichkeit. Das bewirkt sie auch durch die Zeilenumbrüche, die die Leserin geradezu über die Zeilen ziehen, so dass sie nicht aufhören kann zu lesen. Die gebundene Form führt zu einer sprachlichen Verdichtung, die kein überflüssiges Wort zulässt und grade deshalb so prägnant ist.

Diese Lebensgeschichte schreitet große politische Ereignisse und Umbrüche ab, erklärt Zusammenhänge und Entwicklungen, ohne belehrend zu sein. Im Zentrum aber steht das Leben dieser einen Frau, die sich von den Ereignissen mitnehmen lässt und ihnen ihr Leben widmet. Trotz aller Skepsis bleibt am Ende doch auch Bewunderung für ein so kompromissloses Lebenskonzept, das private Bedürfnisse für den großen Kampf zurückstellt, so sinnlos dieser Kampf auch erscheinen mag.

Das Buch ist im Matthes & Seitz Verlag erschienen, hat 207 Seiten und kostet 22 Euro.

Elke Trost

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