Das Schlimmste für Eltern ist der Tod eines Kindes. Er zerstört das Weltvertrauen und verletzt das für die meisten von uns grundlegende Prinzip, dass die Eltern vor den Kindern sterben. Viele Ehen zerbrechen an dieser Katastrophe, weil sich entweder einer der beiden – oder beide – vollständig in die Trauer vergraben oder weil man dem Partner mangelnde Trauerarbeit unterstellt.
Die Niederländerin Lot Vekemans hat diese Situation als Ausgangspunkt ihres Einakters „Gift. Eine Ehegeschichte“ genommen. Schon der Beginn trägt metaphorische Züge. Ein namenloses Ex-Ehepaar – „Sie“ und „Er“ – trifft sich eines Abends auf dem Friedhof, auf dem – wie man im Laufe des Gesprächs erfährt – ihr Sohn liegt, der vor zwanzig Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Gründe dafür sind die Schließung des Friedhofs und die Verlegung der Gräber wegen einer Grundwasservergiftung, die wohl von dem Friedhof herrührt. Der Verweis auf den Titel des Stücks erschließt sich sofort, die Metapher hinsichtlich der ehelichen Beziehungen erst im Laufe des Stücks. Der Tod des Jungen hat die Ehe derart vergiftet, dass der Mann nach zehn Jahren Hals über Kopf ausgezogen ist. Jetzt hat ihn die Frau nach weiteren zehn Jahren um ein Treffen auf eben diesem Friedhof wegen der Grabverlegung gebeten.
Sie ist seit seinem Auszug allein geblieben, und Gabriele Drechsel schreibt ihr von Beginn an verbitterte Züge ins Gesicht. Obwohl sie ihn hergebeten hat, besteht ihre Grundhaltung aus einem einzigen Vorwurf, und sie nutzt jede Gelegenheit, um seine Äußerungen als billig, fadenscheinig oder feige zu denunzieren. Er fühlt sich durchaus schuldig, versucht ihr aber zu erklären, dass er damals ihre abweisende Versenkung in die Trauer nicht mehr ausgehalten und eine Zukunft für sich nur noch in einer sofortigen Trennung gesehen habe.
Doch es geht in diesen gegenseitigen Vorwürfen und Erklärungen nicht in erster Linie um die Ehe und die Gründe ihres Scheiterns, sondern um die unterschiedliche Trauerarbeit der Menschen, hier exemplarisch von Frau und Mann bzw. Mutter und Vater. Für sie ist die permanente Versenkung in jeden Tag und jede Stunde der gemeinsamen Jahre mit dem Kind selbstverständlich, und seinen Wunsch nach Neuanfang, etwa mit einem weiteren Kind, hält sie gefühllos, fast schon für zynisch. Er jedoch pocht auf das Recht auf eben diesen Neuanfang und hat dies auch in Form einer neuen Ehe einschließlich erwarteten Nachwuchses in die Tat umgesetzt.
Regisseur Christoph Mehler lässt die beiden Darsteller – Gabriele Drechsel und Jörg Zirnstein – mit ausgeprägter Distanz agieren. Durchgängig sitzt eine(r) von ihnen in der ersten – sonst leeren – Zuschauerreihe, während der/die andere auf der Bühne agiert. Das zeigt einerseits die innerliche Distanz der beiden und hat andererseits den praktischen Vorteil, dass beide keinen Mundschutz tragen müssen. Allerdings hätte man den jeweils sitzenden Partner auf eine Bank auf der Bühne positionieren können, mit dem Gesichter zumindest halb dem Publikum zugewandt. So versteht man viele der in die Gegenrichtung gesprochenen Sätze nur halb.
Das Stück präsentiert in den beiden Protagonisten die klassische Verortung der beiden Geschlechter, wenn auch nicht klischeehaft, sondern ernsthaft bemüht um die psychologische Glaubwürdigkeit und ohne Abwertung der „falschen“ Trauerarbeit. Sie lebt vor allem in den emotionalen Momenten der glücklichen Vergangenheit und will alle diese glücklichen Augenblicke wieder in der Erinnerung lebendig werden lassen. Paradoxerweise äußert sie im Laufe des Gesprächs den Wunsch und die Hoffnung auf ein neues Glück, doch sie tut aktiv nichts dafür. Er schaut mit einem rationalen Blick auf die Welt und sieht, dass es weitergehen muss und man (er!) das Leben in anderer Form zu einem Erfolg führen muss. Dabei wehrt er sich vehement gegen den Vorwurf unzureichender – oder gar fehlender! – Trauer, merkt aber schnell, dass er mit dieser Verteidigung nur ihre Aggressionen weckt. Ihre aus Trauer geborenen Aggressionen gegenüber der Welt müssen irgendwo ein Ventil finden, und wo findet sich das besser als in der vermeintlich kalten Rationalität des Mannes.
Am Ende sind beide erschöpft und sich keinen Deut näher gekommen. Selbst sein – ein wenig aus schlechtem Gewissen geborener – Vorschlag, noch gemeinsam eine Kleinigkeit zu essen, findet kein Gehör. Sie geht lieber allein nach Hause und wird einen Apfelkuchen backen. Für wen? – fragt sich der Zuschauer. Bei ihr bleibt verbitterte Trauer und bei ihm ratlose Resignation. Dieses Ende verbreitet keinen Schimmer einer Hoffnung, aber darin ist das Stück wohl eher ehrlich als pessimistisch, denn der Tod eines Kindes verfolgt die meisten Eltern bis an ihr Lebensende.
Gabriele Drechsel und Jörg Zirnstein verleihen ihren Rollen Glaubwürdigkeit und hohe Lebensnähe. Man spürt bei beiden echte Trauer und auch Sprachlosigkeit, Ringen um das richtige Wort bei ihm und Flehen um Nähe und Zuwendung bei ihr. Den Eltern unter den Besuchern dürfte diese Inszenierung sicher „unter die Haut“ gegangen sein, doch auch die Kinderlosen ahnten wahrscheinlich den ungeheuerlichen Verlust dahinter.
Kräftiger Beifall des dank Corona leider stark ausgedünnten Publikums.
Frank Raudszus
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