Nachdem das letzte Sinfoniekonzert der vergangenen Saison im Staatstheater Darmstadt bereits unter einschränkenden Corona-Bedingungen stattgefunden hatte, startet die neue Konzertsaison mit dem gleichen Handicap. Das Orchester kann wegen der Abstandsgebote nur in reduzierter Stärke auftreten, und eben diese Abstände zwischen den Musikern stellen das Orchester auch vor Probleme beim Zusammenspiel.
Doch die Konsequenzen dieser Randbedingungen fallen nicht unbedingt negativ aus. Professionelle Musiker können auch unter geänderten externen Umständen Spitzenleistungen abliefern, und ein ausgedünnter Orchesterkörper gewinnt in einer Art ausgleichender Gerechtigkeit ein höheres Maß an klanglicher Transparenz. Das erfordert natürlich durchgängig eine Intonation der Spitzenklasse, weil nun jede Schwäche eines Instrument stärker in Erscheinung tritt. Im ersten Darmstädter Sinfoniekonzert der neuen Saison erwies sich das dank der Qualität des Orchesters als Vorteil, denn die Transparenz der einzelnen Stimmen und Instrumente(ngruppen) erwies sich als das herausragende Gütesiegel dieser Aufführung.
GMD Daniel Cohen hatte zwei Werke ausgewählt, die sich durch eine ausgeprägte Klangvielfalt auszeichnen. Neben Beethovens „Eroica“ erlebten die „Umschreibungen für Kammerorchester“ des Darmstädter Komponisten Arne Gieshoff ihre Uraufführung auf der sinfonischen Bühne. Auf das sonst obligatorische Solo-Stück hatte man wohl auch deshalb bewusst verzichtet, weil Sinfoniekonzerte zu Corona-Zeiten vier statt zwei Mal aufgeführt werden und deshalb die Dauer der einzelnen Aufführung begrenzt werden muss.
Schon der Titel von Arne Gieshoffs Werk verweist implizit auf die Corona-Einschränkungen, wird es hier doch in einem Sinfoniekonzert gespielt, was sich wegen der reduzierten Größe des Ensembles quasi anbot. Laut Gieshoffs eigener Beschreibung geht es in diesem Werke weniger um markante Themen und Motive als vielmehr um klangliche Kämpfe mit einem Ziel frei nach dem Motto „der Weg – bzw. der Klang – ist das Ziel“.
Das Stück beginnt mit einem tiefen, lang gezogenen Klang der Kontrabässe, gefolgt von „schluchzenden“ Bläserfiguren. Dann setzen die Streicher ein, und das Klavier streut einzelne Klangfiguren ein. Der Streicherklang ist dermaßen gleitend, dass man sich bisweilen fragt, ob wirklich diskrete Noten vorgegeben sind oder nur Intervalle, die die Musiker dann im Sinne einer Improvisation ausfüllen. Eine ausgeprägte Metrik gibt es in diesem Werk nicht, dafür eine ausgefeilte Klangvielfalt. Dabei variiert die Dynamik deutlich von leisesten Streicherklängen bis zu eruptiven Hörnermotiven. Jede neue Klangkombination verhallt dann langsam im Raum, als wollten Komponist und Orchester jede einzelne Klangfigur voll auskosten und nicht loslassen. Das Orchester folgte den sparsamen Anweisungen Daniel Cohens mit hoher Aufmerksamkeit und feinem Gespür für die jeweilige Klangwirkung.
Beethovens dritte Sinfonie in Es-Dur, „Eroica“ genannt“, passte zu diesem Einstieg in die Klangvielfalt wie angegossen, bemühte sich doch Beethoven bei diesem Werk um eine besonders ausgeprägte Vielfalt der Klänge, der Phrasierung und der Dynamik. Die komplexe, oft gegenläufige Mehrstimmigkeit ergibt immer wieder neue Klangwirkungen, und weitgehend homophone „Tutti“ kommen zwar vor, aber eher sparsam. In gewisser Weise ähneln sich die beiden gespielten Werke also.
Der erste Satz begann gleich mit zwei energischen Schlägen und drängt dann konzentriert vorwärts. Im Weiteren brillieren vor allem die Flöten, dann die anderen Bläser. Die dank der Reduktion der Instrumente höhere Transparenz lässt jede einzelne Stimme und jede Begleitfigur einer beliebigen Instrumentengruppe deutlich hervortreten, wodurch sich die Struktur des Satzes dem Ohr des Zuhörers öffnet. Die fehlerlose Intonation jedes einzelnen Instruments braucht man man diesem Orchester eigentlich nicht hervorzuheben, sie sei aber doch erwähnt, weil dadurch auch die vielfältigen Tempo- und Dynamikwechsel „en detail“ herausgearbeitet werden.
Der zweite Satz – angeblich als „Trauermarsch“ des Republikaners Beethoven zu Napoleons Kaiserkrönung gemeint – lebt vor allem von der starken Leistung der Bläser im Rückraum, die alle Varianten der Klangwirkung beherrschen, vom breiten Auftreten der Hörner über die quicklebendigen Oboen und die warmen Klarinetten bis hin zu den filigranen Flöten. Die Kunst in diesem Satz besteht darin, den Spannungsbogen trotz des ausgesprochen langsamen Tempos aufrecht zu erhalten. Das gelingt Dirigent und Orchester auf hervorragende Weise, und die grelle Fanfare der Bläser kurz vor dem Schluss wirkt geradezu wie ein Verzweiflungsschrei.
Das Scherzo des dritten Satzes kommt zu Beginn als ein langsames Erwachen aus der tiefen Trauer des zweiten Satzes daher. Auch hier beweisen sich wieder die Bläser, vor allem die Hörner, in einer Vielzahl von kleinen aber makellosen Soloeinlagen. Wie eine sensorische Explosion wirkt die abwärts führende, arhythmische Figur kurz vor dem Ende dieses Satzes, die bewusst allen Hörgewohnheiten entgegenläuft.
Auch der vierte Satz mit seinen vielfältigen Variationen des Grundthemas besticht durch seinen instrumentalen Einfälle und die versetzten Rhythmen. Hier lässt Beethoven noch einmal seinen ganzen orchestralen und klanglichen Einfallsreichtum zur Geltung kommen, und das Orchester spürte diesen Einfällen in allen Details nach. Aufgrund des schlanken Orchesterkörpers konnte das Publikum die harmonischen und motivischen Figuren bis in die Details nachvollziehen, und vor allem das prägnant interpretierte Fugato verlieh dem Satz noch zusätzliche Schärfe und Eigenwilligkeit.
Man spürte bei diesem Konzert buchstäblich den Hunger des Orchesters nach öffentlichen Auftritten nach der langen – und leider noch andauernden – Corona-Pause. Spielfreude und -leidenschaft sowie Präzision und musikalische Begeisterung dieses Konzerts zeigen, dass die musikalische Qualität unter Corona nicht gelitten hat und dass wir auf baldige Normalisierung der sinfonischen Verhältnisse hoffen können, auch wenn es denn auf Kosten der Transparenz gehen sollte.
Frank Raudszus
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