Wer diese Biographie Georg Wilhelm Friedrich Hegels von Klaus Vieweg zur Hand nimmt, sollte keine populärwissenschaftliche Darstellung eines Philosophenlebens erwarten, sondern sich auf harte intellektuelle „Arbeit am Text“ vorbereiten. Als Beispiel für Hegels (und Viewegs!) Diktion sei die Definition des Geistes auf Seite 588 angeführt:„absolute Negativität des Begriffs als Identität mit sich selbst, Rückkehr der Idee aus ihrem Außer-sich-Sein, die Aufhebung des Außer-sich-Seins und die Gewinnung des Bei-sich-Selbst-Seins der Idee, also der Identität der Subjektivität und Objektivität“. Wer jetzt noch aktives Interesse an diesem Buch zeigt oder gar noch größere Wissbegier entwickelt, kann sich auf eine äußerst lehrreiche und – ja! – sogar spannende Lektüre freuen, die allerdings mit gedanklicher Arbeit verbunden ist.
Vieweg verzichtet von vornherein auf eine „menschelnde“ Annäherung an Hegel, um ihn einem breiten Publikum näher zu bringen. Zwar behandelt er die privaten Aspekte von Hegels Leben nicht stiefmütterlich oder blendet sie gar aus, jedoch verleiht er ihnen nur das Gewicht, das ihnen im Rahmen von Hegels Wirken und Bedeutung zukommt. Das gilt vor allem für ganz private Dinge wie sein Verhältnis zu Frauen oder seinen Kindern, die zwar durchaus ihren Platz erhalten, aber weder in den Vordergrund geschoben noch etwa als Erklärung für seine Art zu Denken herangezogen werden. Vieweg bewahrt bis zum Schluss – im Gegensatz etwa zu so manchem („Wolferl“) Mozart-Biographen – eine fast ehrfurchtsvolle Distanz zu Hegel als privatem Menschen. Selbst über den recht plötzlichen und medizinisch wohl nie richtig geklärten Tod des Einunsechzigjähringen berichtet Vieweg am Ende nur kurz und geradezu nüchtern.
Dafür steht Hegels philosophisches Werk im Mittelpunkt, das sich in verschiedenen Publikationen wie der Differenzschrift, der Phänomenologie des Geistes, der Wissenschaft der Logik, der Philosophie des Rechts sowie der Enzyklopädie niedergeschlagen hat.
Natürlich ist die Kenntnis von Hegels Jugend und frühen beruflichen Jahren unerlässlich für das Verständnis von Leben und Werk. Das Tübinger christliche Stift, in dem er als Schüler aufwächst, konfrontiert ihn schon früh mit einer dogmatischen und repressiven Welt, die sein Freiheitsbedürfnis stärkt und seinen Geist für die inneren Widersprüche der klerikalen Welt schärft. Zusammen mit seinem Jugendfreund Hölderlin und dem später zu seinem erbitterten Gegner konvertierten Schelling begehrt er gegen den repressiven Geist der Kirche auf und weckt das Misstrauen seiner Lehrer, die ihn jedoch erstaunlicherweise nicht aus dem Stift jagen sondern ihm sogar einen ordentlichen Abschluss ermöglichen. Unter weitgehendem Verzicht auf wohlfeile Polemik gegen die kirchliche Dogmatik beschreibt Vieweg lediglich die Situation der hoch intelligenten jungen Leute und ihren inneren Widerstand gegen jegliche Dogmatik.
Von daher ist es geradezu selbstverständlich, dass Hegel ein begeisterter Anhänger der französischen Revolution wird und diese Begeisterung – trotz Jakobinern wie Robbespierre – bis zu seinem Tod nicht ablegen wird. Deutlich arbeitet Vieweg Hegels Schwur auf die Freiheit des Denkens heraus, die jedoch auch die Selbstdisziplin des logischen und methodischen Argumentierens einschließt.
Vieweg zeigt detailliert Hegels langen Umweg über teilweise subalterne Beschäftigungen in Bern, Frankfurt, Bamberg und Nürnberg bis zur Professorenstelle in Berlin. Als Hauslehrer bei erzkonservativen Schweizer Patriziern (und Revolutionsgegnern!) oder bei liberalen Frankfurter Kaufleuten, als engagierter und kenntnisreicher Lokaljournalist in Bamberg und als Gymnasialdirektor in Nürnberg zeigt er nicht nur seine intellektuellen Fähigkeiten sondern auch beherztes Eintreten für Reformen und freiheitliches Gedankengut. Erstaunlich, wie dieser hoch begabte Mann nie an den untergeordneten Tätigkeiten verzweifelte, sondern das jeweils Beste aus ihnen machte. Vieweg betont immer wieder Hegels heiteres und verträgliches Wesen, das auch Lustbarkeiten sowie dem Wein nicht abgeneigt war und durchaus nicht in das Klischee des weltfremden Denkers in der Dachstube entsprach. Hegel war bis zu seinem Tod im ihm durchaus nicht immer wohl gesinnten Berlin ein durch und durch positiv denkender Mensch, der die Freiheit nicht zu einem fundamentalistischen Fanal erhob, sondern sie einfach als Grundlage seines Denkens – und eines menschenwürdigen Lebens – voraussetzte.
Die klerikale Dogmatik führte Hegel schon früh dazu, alle Begriffe zu hinterfragen und den Ursprung der Logik und der Begrifflichkeit zu suchen. Selbst Begriffe wie „Begriff“, „Idee“ oder „Wesen“ waren ihm nicht vermeintlich selbstverständliche Worte, sondern verlangten eine genaue Definition ohne die überall lauernden Zirkelschlüsse. Das macht Hegels – und Viewegs! – Texte so schwierig, weil sie bei den Definitionen nicht auf andere, vermeintlich selbstverständliche Begriffe (!) zurückgreifen, sondern sie aus einer elementaren Logik selbst entwickeln. Das führt zu Wortschöpfungen wie „An-sich-Sein“, „Für-sich-Sein“ und „Außer-sich-Sein“ und zu (nur) scheinbar trivialen Aussagen wie der „Identität mit sich selbst“.
Außerdem verzichten sowohl Hegel als auch Vieweg bei ihren Ausführungen auf jegliche eingehende Beispiele aus der Alltagspraxis. Das hat seinen guten Grund darin, dass „griffige“ Beispiele stets eine einschränkende Konkretisierung mit sich bringen, die der „Allgemeinheit“ eines Begriffs zuwiderläuft und letztlich die Logik zumindest unterschwellig auf das jeweilige Beispiel verkürzt. Eine Definition muss stets aus ihrer möglichst voraussetzungslosen Formulierung zu verstehen sein. Das macht natürlich die Lektüre nicht unbedingt einfacher.
Ein wichtiges Thema in Hegels früher Zeit war der damals übliche Dualismus von „Ich“ und „Welt“ oder „Subjektivität“ und „Objektivität“, den Hegel von Anfang an für künstlich und von Menschen gesetzt hielt. Für ihn existierte ein solcher behaupteter Dualismus nicht, doch einfacher Widerspruch war nicht seine Sache, sondern die logische zwingende Beweisführung der „Identität von Subjektivität und Objektivität“. Diese Gedanken führten schließlich zu dem ersten großen Werk, der „Phänomenologie des Geistes“, dessen Entstehung Vieweg detailliert und methodisch nachvollzieht.
Vieweg zeigt, dass Hegel sich auf keine vermeintlich sicheren Begriffe verlässt, sondern diese wegen ihrer inhärenten „Bedeutungen“ durch eigene, neu geschaffene Wortschöpfungen ersetzt. So entstehen Kombinationen wie „An-sich-Sein“ oder „Für-sich-Sein“, die noch nicht durch die Alltagssprache vereinnahmt worden sind und daher eine unverfälschte Bedeutung annehmen können. In der Wissenschaft der Logik definiert Hegel überhaupt erst den Begriff „Begriff“ und gleich noch das „Sein“ und das „Wesen“, alles Worte, die wir auf fast naive Weise verwenden, die jedoch in Hegels System eine wohl definierte, präzise Bedeutung besitzen.
Neben der persönlichen – beruflichen und privaten – Entwicklung Hegels beschreibt Vieweg dessen zentrale Werke mit beeindruckender Präzision und Tiefenschärfe. In der „Philosophie des Rechts“ zeigt er Hegels methodischen Ansatz in der stufenweisen Entwicklung des menschlichen Rechtsempfindens von der subjektiven Moralität über die bürgerliche Gesellschaft bis hin zur „Sittlichkeit“ des Staates auf. Für Hegel war die Grundidee des Staats als verfasste Einheit seiner Bürger der Höhepunkt der sittlichen Entwicklung. Das hat zu Missverständnissen und bei missliebigen Nachfolgern zu dem Vorwurf geführt, Hegel sei so etwas wie ein „Staatsdiener“ gewesen. Sein berühmter Ausspruch „Alles Vernünftige ist wirklich und alles Wirkliche ist vernünftig“ hat diesen Vorwurf der Affirmation noch verstärkt. Vieweg weist jedoch auf das Missverständnis des Wortes „wirklich“ hin. Für Hegel sei „Wirklichkeit“ nicht als die banale Alltagsrealität einschließlich staatlicher Repression zu verstehen, sondern als das, was hinter der Fassade der tatsächlichen Ordnung das Wesen der Menschen ausmache. In diesem Sinne sei Hegels rätselhafter Ausspruch als Zielvorstellung zu verstehen.
Vieweg weist auch auf den Gegensatz zwischen Hegels „moderner“ Philosophie und dem „falschen“ Idealismus von Zeitgenossen wie Fichte oder Schelling hin. Ersterer galt in Hegels Jugend als Autorität und vertrat eine autoritäre Staatsphilosophie, die das Leben der Menschen vollständig von „oben“ regulieren müsse, eine Vorstellung, die Hegels Freiheitsidealen diametral entgegenstand. Schelling wiederum vertrat später einen romantischen Idealismus, der nicht das Denken an den Anfang stellte, sondern ein nebulöses, nicht mehr zu hinterfragendes Grundwissen, das wie eine religiöse Offenbarung zu verstehen sei.
Die Auseinandersetzung mit Hegels Werken, mit dem „Denken des Denkens“, bildet den Schwerpunkt dieses Buches, und von daher verstehen sich auch seine sonstigen Lebensäußerungen, so etwa seine enge Bekanntschaft mit Goethe oder sein starkes Interesse für die bildende Kunst und die Musik. Kaum ein Zweig der Ästhetik blieb von Hegel unbeachtet, und die wichtigsten künstlerischen Richtungen, Persönlichkeiten und Werke schlugen sich entweder in Hegels Alltag oder in seinen philosophischen Werken nieder.
Höhepunkt und Abschluss von Hegels Leben war die Professur im preußischen Berlin, die ihm zwar Ruhm und Bewunderung der freiheitlich gesinnten Studenten, aber auch Ablehnung (und Hass) des reaktionären preußischen Adels einbrachte. Vieweg zeigt, dass Hegel seine freiheitliche Lehre mit durchaus ironischen und anderen Täuschungsmitteln durch die Zensur brachte, frei nach der Erfahrung, dass Zensoren selten einen Sinn für feinere Ironie oder doppelbödige Formulierungen haben. Auch dieser scheinbare Kotau vor den Zensoren hat ihm Kritik von Leuten – vor allem von Epigonen – eingebracht, die lieber einen einflusslosen aber heldenhaft leidenden Märtyrer als einen geschickten Tagespolitiker gesehen hätten. Vieweg zeigt, dass Hegel eben auch Alltagsmensch und Pragmatiker war, der es vorzog, seine Vorstellungen an einer Universität verbreiten zu können, statt mit großer Pose in der wissenschaftlichen und politischen Bedeutungslosigkeit zu verschwinden.
Viewegs besondere Leistung besteht darin, Hegel als einen intellektuellen Meilenstein der europäischen Geistesgeschichte zu portraitieren, der die menschliche Geistesgeschichte im Geiste von Kant „auf den Kopf“, das heißt, auf seine Denkfähigkeit gestellt hat. Auch wenn Karl Marx später meinte, Hegel „vom Kopf auf die [ökonomischen] Füße stellen“ zu müssen, tut das der großen Lebensleistung von Hegel keinen Abbruch. Klaus Vieweg hat diesem geistigen Meilenstein mit der gebührenden Achtung ein so nüchternes wie überzeugendes Denkmal gesetzt.
Das Buch ist im Verlag C.H. Beck erschienen, umfasst einschließlich Register und Anmerkungen 824 Seiten und kostet 34 Euro.
Frank Raudszus
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