Am ersten Juni-Wochenende fand das 8. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt statt, dieses Mal an fünf statt an zwei Terminen. Das lag natürlich an dem Corona-Virus, denn das Platzangebot war wegen des Abstandsgebots deutlich reduziert worden. Die Besucher schienen sich angesichts des sonst stets ausgebuchten Großen Hauses in den weitgehend leeren Sitzreihen zu verlieren.
Das Abstandsgebot galt allerdings auch auf der Bühne, was zu einer ebenso deutlichen Ausdünnung des Orchesterpersonals führte, das unter der Leitung von GMD Daniel Cohen spielte. Man saß dort oben im gebotenen Abstand, und die Bläser bliesen sogar hinter einer Glaswand. Das hatte natürlich eine völlig andere Orchester-Akustik zur Folge, deutlich vernehmbar beim ersten Stück, Richard Wagner „Siegfried-Idyll“. Dieses sonst gerne von wagnergroßen Orchestern mit gerade süchtig machender Intensität und gesättigter Feinspannung präsentierte Werk kam jetzt fast schon als Kammermusik daher. Man hörte jedes einzelne Instrument, und gerade bei den Bläsern mussten ein oder zwei Vertreter einer Instrumentengattung den gleichen Effekt erzielen wie sonst drei oder gar vier von ihnen. Das dünnte natürlich den Klangeffekt aus und bürdete die gesamte Klangbildung – und damit den für Wagner typischen Drogencharakter – dem einen Instrumentalisten auf. Dank der hohen Qualität des Staatstheaters meisterten vor allem die Bläser diese Herausforderung souverän, wobei besonders das einsame Horn, aber auch Flöte(!), Klarinetten und Oboe(!) zu nennen sind. Die bereits erwähnte Drogenwirkung dieser Musik entwickelte sich dadurch nur ansatzweise, das wurde aber kompensiert durch die völlig neue kammermusikalische Wirkung des Werkes.
Für Joseph Haydns Cello-Konzert Nr. 2 in D-Dur spielte die Orchestergröße keine Rolle, da die Orchester zu Haydns Zeit sowieso kleiner waren und sich bei Solo-Konzerten auch über weite Strecken auf die Begleitung beschränkten. Die ersten Takte des Orchestervorspiels wirkten noch etwas verschwommen (wohl bedingt durch die doch ungewohnten Abstände zwischen den Musikern), dann jedoch gewann das Spiel deutlich an Kontur. Spätestens mit dem Einsatz des Cellos, gespielt von dem international renommierten Solisten Alban Gerhardt, war dann der (Corona-)Bann gebrochen. Von nun diktierte Gerhardt mit seiner beeindruckenden Technik, seiner Spielintensität und seiner Musikalität das Geschehen. Anfangs wirkte die Begleitung des Orchesters noch etwas spannungslos, aber mit zunehmender Dauer gewann auch das Orchester an Präsenz und Ausdruckskraft. Hervorzuheben in diesem ersten Satz ist die Solo-Kadenz des Cellos, bei der Alban Gerhardt alle Register zog, wenn man hier einmal eine Metapher aus einem anderen Instrumentalbereich verwenden darf. Den zweiten Satz intonierte er mit spannungsvollen Innigkeit und nie nachlassenden Intensität. Die kurze Solo-Kadenz des Cellos vor dem Schluss verlieh dem Satz noch eine besondere Note. Der dritte Satz kam tänzerisch und temperamentvoll daher. Alban Gerhardt hatte hier noch einmal Gelegenheit, sein technisches und musikalisches Können auszubreiten, und das Orchester sorgte für eine spannungsvolle und dichte Ergänzung des Soloparts.
Den Abschluss des pausenlosen Abendprogramms bildete Sergej Prokofjews Sinfonie Nr. 1, genannt „Symphony classique“, weil er sie auf vermeintlich naive Weise im klassischen Stil verfasste. Hinter dieser scheinbaren Naivität standen natürlich ganz andere Gründe: einerseits eine Verbeugung des 20. Jahrhunderts vor der klassischen Periode, andererseits ein humorvolles „Remake“ der klassischen Werke mit modernen harmonischen Mitteln. Ob der temperamentvolle, streng rhythmische Beginn des ersten Satzes (im Stil Beethovens), die an Mozart erinnernden absteigenden Sequenzen des zweiten Satzes („Larghetto“), die eher einem Scherzo Schuberts – und auch ein wenig Prokofjews eigenem Werk „Peter und der Welt“ – ähnelnde Gavotte des dritten Satzes oder der fern an Rossi anklingende schnelle Schlusssatz: alle vier Sätze enthalten deutliche Zitate der klassischen sinfonischen Musik und sind in ihrer Harmonik und Instrumentierung doch typische Vertreter des 20. Jahrhunderts. So mancher Purist in den Kritikerreihen mag dieses Werk als epigonenhaftes „Nachklittern“ betrachtet haben, doch diese abwertende Einordnung unterschätzt Wirkung und Bedeutung des künstlerischen Humors in der Musik. Daniel Cohen und das reduzierte Orchester des Staatstheaters brachten diesen Aspekt der „Symphony classique“ überzeugend und mit nicht zu überhörender Spielfreude zum Ausdruck. Dieses Werk war damit der passende weil humoristische Abschluss eines notwendigerweise unter starken – auch musikalischen – Einschränkungen stattfindenden Konzertes.
Das Publikum zeigte sich außerordentlich dankbar und simulierte mit einigem Erfolg den Applaus eines gefüllten Hauses.
Frank Raudszus
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