Wenn ein Schauspieler einige Jahre erfolgreich an einem Theater gespielt, sich dort wohlgefühlt und schließlich die Gelegenheit zum Sprung an ein größeres Theater erhalten hat, so mag es sich ergeben, dass er sich bemüßigt fühlt, sich mit einer besonderen Darbietung von seinem Publikum zu verabschieden. Nicht immer bietet sich die Gelegenheit dazu, doch im Falle von Volker Muthmann, der in der nächsten Saison ans Bonner Theater wechselt, konnte das Staatstheater Darmstadt diese „Abschiedsvorstellung“ in den Spielplan einbauen. Muthmann hat in den letzten Jahren einige überzeugende Interpretationen bekannter Rollen geboten – eine der letzten war der „Prinz von Homburg“ – und wird vorerst eine Lücke im Ensemble hinterlassen. Die Rolle des „Taugenichts“ ist ihm wie auf den Leib geschrieben, und zusammen mit seiner Lebensgefährtin Laura Bombonato (Regie) hat er die nahezu neunzig Seiten umfassende, für die Bühne gekürzte und umgearbeitete Novelle des Joseph Freiherr von Eichendorff einstudiert. Doch bezüglich der „Bühne“ hatte man sich etwas Besonderes ausgedacht: da die Romantik vor allem für die freie und unendliche Natur schwärmte, war diese unbedingt in die Inszenierung zu integrieren, nicht zuletzt, um den Prosatext im erforderlichen Maße aufzulockern. Da bot sich das „Intendanzgärtchen“ – in der Ankündigung auch bewusst im romantisierenden Diminuitiv genannt – des Staatstheaters geradezu an. Es besteht aus einem kleinen Innenhof im Verwaltungstrakt des Theaters, der neben zwei hochgewachsenen Birken einen niederen „Naturgarten“ ohne übertriebene gärtnerische Gestaltungsmerkmale beinhaltet. Hier erwarten zwei Stuhlreihen an einer Seitenwand die Besucher, und der Garten gehört dem Darsteller. Die Tatsache, dass Volker Muthmann die Violine offensichtlich mehr als leidlich spielt, erweist sich als weiterer Glücksfall für diese Inszenierung: denn er selbst führt – im Habit der Romantik – die Zuschauer mit Violinbegleitung und einigen Kratzfüßen zu ihren Plätzen. Dann beginnt er im Plauderton und unter Ausschenken von Sekt an die Besucher, seinen Text vorzutragen. Dabei bemüht er sich von Anfang an trotz des romantisch-gezierten Tonfalls der Vorlage um eine möglichst aktualisierte Interpretation, sodass die Eichendorffsche Sprache keinen Augenblick lang hausbacken oder schwülstig klingt.
Der Taugenichts wird eines Tages eben wegen dieser seiner Eigenschaft von seinem Vater aus dem Haus geworfen, um sich in der Welt zurechtzufinden und alleine durchzuschlagen. Und wie „Hans im Glück“ oder ein romantischer Parzival stolpert er nichtsahnend von einem glückhaften Geschehen ins nächste. Zwei schöne Frauen nehmen ihn auf ein Schloss mit und bieten ihm eine Gärtnerstelle an, die er mehr schlecht als recht ausfüllt, da er sich in die eine der Damen verliebt hat. Doch anstatt die Stelle zu verlieren, erhält er – wieder durch Glück – sogar die Stelle des Zolleinnehmers. Trotzdem flieht er, als er die von ihm Angebetene in festen Händen wähnt, nur um wieder von zwei Reitern mitgenommen, mit Geld versorgt und per Kutsche in ein italienisches Schloss gebracht zu werden, das sich für ihn als Schlaraffenland entpuppt. Als er auch von dort flieht und zum Schloss an der Donau zurückkehrt, hat dort die schöne Frau bereits auf ihn gewartet, die durchaus keine hochgestellte Gräfin und auch nicht vergeben war. Ohne einen eigenen „Leistungsbeitrag“ erreicht der Taugenichts schließlich alles, was er sich erwünscht und erhofft hat – eine offensichtlich bewusste Provokation des Autors gegenüber dem restaurativen und standesbewussten Bürgertum seiner Zeit.
Volker Muthmann lässt diesen glückhaften Taugenichts im abendlichen Garten des Intendanten lebendige Gestalt annehmen. Sein Taugenichts ist alles andere als unbekümmert und erwartet eigentlich immer irgend ein Unglück, nimmt aber den stets glückhaften Verlauf wie eine Fügung des Schicksals hin. Er würde wohl auch Unglück mit derselben seelischen Genügsamkeit ertragen. Immer wieder greift Muthmann zur Geige und zelebriert Schubert-Lieder, so aus der „Schönen Müllerin“, oder anderes Liedgut der Romantik. Den Natur- und Freiheitsdrang des Protagonisten verdeutlicht Muthmann in geradezu akrobatischer Manier, wenn er deklamierend die Birken ersteigt, und das nicht etwa mit Hilfe von Leitern oder Stühlen sondern allein durch die Geschicklichkeit von Armen und Beinen. Selbst ein Abrutschen vom Baum und hilfloses Hängen an einem Ast inszeniert er ganz bewusst, um den entsprechenden Text, der eine halbwegs missglückte Flucht in einen Baum vorsieht, zu illustrieren. Selbst die turnerischen Misserfolge sind also Teil der Aufführung. Hoch oben aus der Birke lässt er dann den Taugenichts seine abenteuerliche Geschichte fortsetzen und unterbricht die Erzählung auch während des Abstiegs nicht.
Zwischendurch sammelt er während seines Vortrags wie selbstvergessen scheinbar imaginäre Walderdbeeren im Garten des Intendanten, um diese plötzlich als reale Beeren den Damen im Publikum anzubieten. Der zu kurz gekommene männliche Zuschauer fragt sich natürlich hämisch, ob diese nicht vielleicht wie Ostereier vorher im Gras oder im Wams des Schauspielers verborgen waren. Wie dem auch sei, Muthmann sucht immer wieder den Kontakt zum Publikum und flicht die kurzen Dialoge mit den Zuschauern geschickt in den Text ein, so dass die übliche Bühnendistanz sich gar nicht erst etablieren kann. Manchen Überlegungen und Erkenntnissen des Taugenichts möchte man spontan zustimmen oder eigene Kommentare widmen, und bei seinen sehnsüchtigen Liedern zur Violine summen und singen sogar einige Zuschauer(innen) leise mit. Muthmann hat sein Publikum bis zur letzten Minute fest im Griff, verliert nie den Augenkontakt und hat immer ein humoristisches Detail parat, sei es die Fackel, die er im hintersten Winkel des Gärtleins entzündet und die die Nacht symbolisiert, oder sei es das Fingerschnippen, mit dem er die Beleuchtung ein- oder ausschaltet. Am Schluss leistet sich die Inszenierung noch eine kleine Eigenmächtigkeit gegenüber Eichendorff. Während dieser den Taugenichts seine Angebetete erringen und die Geschichte mit dem Schlusssatz “ – und es war alles, alles gut.“ enden lässt, zieht sich Muthmann mit dem Mund den Ring vom Finger, packt seine Violine zusammen und macht Anstalten aufzubrechen. Das Verweilen im schönen Augenblick ist seine Sache nicht, der Taugenichts muss immer weiterziehn – so lautet die Quintessenz der Inszenierung von Bombonato-Muthmann.
Das Publikum nahm diese Abwandlung gelassen hin und war’s zufrieden. Langer und sehr herzlicher Beifall verabschiedeten den Solodarsteller, der hier eine wirklich bemerkenswerte Abschiedsvorstellung bietet. Wer sie noch sehen will, sollte sich schnellstens beim Theater nach den nächsten Terminen erkundigen.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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