Hass-Reden im Internet sind eines der jüngeren Phänomene mit bedenklichen gesellschaftlichen Folgen. Der Wegfall der durch die Druckkosten bedingten „Gatekeeper-Funktion“ von Buch- und Zeitungsverlagen hat zu einer auktorialen Selbstermächtigung der Rezipienten geführt, die diese mit zunehmender Hemmungslosigkeit ausnutzen.
Nicht zuletzt dieses Phänomen wird den international renommierten Literaturprofessor Karl Heinz Bohrer dazu motiviert haben, sich des Themas „Hass in der Literatur“ anzunehmen. Angesichts der Tiefgründigkeit seiner literarischen Recherchen für dieses Buch kann (oder muss) man jedoch annehmen, dass er sich bereits vor der aktuellen „Hass-Krise“ damit beschäftigt hat.
Bohrer geht in seinen Untersuchungen chronologisch vor, wobei er sich allerdings auf den europäischen Raum konzentriert. Dass er den asiatischen Kulturraum ausspart, lässt sich einerseits mit sprachlichen, andererseits mit arbeitsökonomischen Gründen erklären, obwohl gerade die japanische Literatur hier wohl einige Erkenntnisse beitragen könnte. Ähnliches gilt für die osteuropäische und russische Literatur, die in diesem Buch nicht vertreten ist. Dass allerdings der (nord-)amerikanische Raum durch Abwesenheit glänzt, verwundert dann doch ein wenig. Diese Einschränkung mindert natürlich die Aussagekraft der Untersuchungen für die europäische Literatur in keiner Weise, wenn auch Querbezüge aufschlussreich hätten sein können.
Der Titel dieses Buches stammt aus Shakespeares „Hamlet“ und verweist damit fast schon explizit auf einen Schwerpunkt dieses Buches: Shakespeare. Der Untertitel „Der literarische Hass-Effekt“ betont noch einmal ausdrücklich die bewusste Fokussierung auf die literarische Funktion und Wirkung des Hasses. Bohrer verzichtet auf jegliche tiefer gehende politische Kontexterklärungen und vor allem auf gesellschaftskritische Deutung oder gar Kritik. Ihm geht es ausschließlich um die literarische Seite des Hasses.
Er beginnt mit einem kurzen Verweis auf die Antike, vor allem dem hasserfüllten Dialog zwischen Achill und Hector, verfolgt diese Ansätze jedoch nicht weiter, da die Antike für ihn stark vom Mythos geprägt ist und dem Menschen keine eigenständigen, „individuellen“ Emotionen zugesteht. Immer stecken irgendwie die Götter oder das „Schicksal“ dahinter. Seine literarische Hasswelt beginnt mit den frühen englischen Dichtern Marlowe und Kyd. Vor allem Marlowe hat antike Dramen übersetzt, darunter die römischen Bürgerkriegsdramen mit ihren Grausamkeiten, und die Parallelen zu den englischen Rosenkriegen mit ihren grausamen Methoden gesehen. In seinen eigenen Dramen setzt sich diese Abbildung einer hasserfüllten Epoche sprachmächtig durch.
Von da ist es ein kurzer Weg zu Shakespeare, den er ausgiebig auf Hass-Effekte abklopft. Dabei kippt er nebenbei die gängige Meinung, Hamlet sei in seiner intellektuellen Zauderei die erste postmoderne Figur gewesen. Dieses Missverständnis ist wohl gerade in Deutschland durch die „bereinigten“ Übersetzungs Schlegels und Tiecks zustande gekommen. Fast genüsslich zitiert Bohrer die hasserfüllten Tiraden Hamlets über seine Mutter („I will speak daggers to her“!) und die anderen führenden Personen am Hof. Hamlet ist demnach ein wahres Hass-Bündel, und hier zeigt Bohrer auch schon die besondere literarische Qualität der imaginativen Rede auf, die in ihrer Kompromisslosigkeit und emotionalen Expressivität keine Grenzen mehr kennt. In diesen Passagen verdichtet Shakespeare den Hass als solchen literarisch zu höchstem Druck. Dabei geht es nicht mehr um den konkreten Anlass zum Hass im Sinne einer Gesellschaftskritik, sondern allein um die elementare Kraft dieses allzu menschlichen Gefühls.
Bohrer weist diese Hass-Effekte auch in anderen Shakespeare-Dramen wie „King Lear“ nach, der seine vermeintlich lieblose Tochter mit Hass überschüttet, oder „Titus Andronicus“, bei dem der Hass zu anatomischen Grausamkeiten ausartet. Natürlich darf „Richard III.“ nicht fehlen, der seinen Hass über die ihn verunstaltenden Welt nach allen Regeln der Kunst auslebt. Lady Macbeth ist eine andere Hass-Figur, die alle Autoritäten eben wegen dieser ihrer Funktion hasst. Selbst in „Romeo und Julia“ entdeckt er den Hass nicht nur in der Figur des Tybalt, sondern in Romeos Reflexionen über das Wesen des Hasses zwischen den Familien.
Kommt der Hass der Shakespeare-Dramen aus der Erfahrung des englischen Bürgerkrieges, so fügt John Milton in seinem „Paradise Lost“ eine neue Variante hinzu: die des gescheiterten Revolutionärs. Der Erzengel Lucifer hat Gottes Allmacht nicht akzeptiert und rebelliert. Nach seiner Niederlage und dem Sturz in die Hölle verfolgt er alle Aktivitäten der göttlichen Heerscharen mit abgrundtiefem Hass und sabotiert als Schlange sogar das große Paradies-Projekt seines ehemaligen Vorgesetzten und jetzigen Feindes. Damit hat Milton die Religion in die Hass-Debatte eingeführt, zwar „politisch korrekt“ am Beispiel Luzifers, aber dennoch im subversiven Sinne religionskritisch.
Swifts Polemik in „Gullivers Reisen“ dagegen erreicht nicht die literarische Höhe von Shakespeare oder Milton, weil sie stets an aktuelle politische Verhältnisse gebunden ist und einer satirischen Aufklärung dient. Mit dieser politischen „Sachbindung“ können laut Bohrer auch die bösartigsten Passagen in Swifts Werken nicht die Dichte des absoluten Hasses gewinnen, der sich tief aus dem Inneren des Subjekts entwickelt.
An dieser Stelle erfolgt Bohrers „Brexit“, denn fürderhin beschäftigt er sich nur noch mit kontinentalen Literaten. Bei Heinrich von Kleist sieht Bohrer wieder eine imaginative Kraft des Hasses erblühen. Dazu verweist er auf Kohlhaas´ hasserfüllte Reden, die längst nicht mehr dem Unrecht an den beiden Rappen gelten, auf den Hassausbruch der Marquise von O. gegenüber dem reumütigen russischen Offizier oder auf den Hass der Sklaven in der „Verlobung von St. Domingo“. In all diesen Erzählungen steigert sich ein ursprünglich nachvollziehbarer Protest zu einem eigenständigen, nicht mehr steuerbaren Hass. Dabei geht es Bohrer nie um die (Nicht-)Berechtigung dieser Hassausbrüche, sondern um ihre Loslösung vom ursprünglichen Anlass zu einem eigenständigen emotionalen Extremzustand.
Baudelaire dient Bohrer als Beispiel des die Gesellschaft hassenden Außenseiters, der einerseits eine (vermeintlich) unsensible und ignorante Gesellschaft hasst, weil sie seinen geistigen Wert nicht anerkennt, andererseits sich von dieser Gesellschaft explizit verachtet fühlt. Dazu kommt bei Baudelaire der Hass auf die Mutter, die ihn als uneheliches Kind angeblich selbst gehasst hat. Bei Baudelaire sieht Bohrer den Hass sich tatsächlich zu einer wahren „Blume des Bösen“ entwickeln, den er dann in dem gleichnamigen Gedichtzyklus kompromisslos ausgelebt hat.
Ganz anders geht Richard Wagner mit seinem Hass auf die ihn angeblich nicht genug schätzende Welt um. Einerseits bricht sich der Hass bei Brünhilde gegen den „untreuen“ Siegfried Bahn, andererseits lässt Wagner seinem Hass freien Lauf in der Götterdämmerung, wenn das ganze System der Eliten um Wotan dem Untergang entgegentaumelt. Dabei geht es ihm weder um eine historische Darstellung des Nibelungen-Unterganges noch um psychologische Deutungen, sondern nur um den hasserfüllten Triumph, wenn das verachtete System – Wagners Epoche – zugrunde geht. Bei Wagner spielt für Bohrer auch die enge Verbindung von Hass und Erotik eine Rolle, wie sie bereits bei Shakespeare angedeutet wird („Romeo und Julia“, „Richard III.“) und im Folgenden noch deutlicher zum Vorschein kommt.
Strindberg ist für Bohrer der Meister des häuslichen Hasses hinter der Fassade der Wohlanständigkeit. Hier kommt der Hass zwischen Ehepartnern meist nur in kurzen Nebensätzen oder Seitenhieben zum Ausbruch, ohne die bürgerliche Fassade zu verletzen. Der Hass entwickelt sich langsam subkutan und wird nach außen als Emotion negiert. Die „Eruption“ besteht in lange geplanten Racheakten. Stets steht der Ehebruch oder die Vaterschaft im Mittelpunkt der ehelichen Probleme, und hier lebt sich der Hass – meist der Frauen – auf vielfältige und versteckte Weise aus.
Von Strindbergs Norwegen geht es zu Célines Frankreich. Der Erste Weltkrieg hat den Ausbruchs von Célines Hass-Gesängen nur befördert, aber laut Bohrer nicht verursacht. Célines Hass auf die Gesellschaft war älteren Datums und benutzte die Schlächtereien des Weltkriegs nur als Katalysator. Seine Abneigung galt einer verlogenen Gesellschaft, wobei Bohrer nicht auf die Berechtigung dieses Hasses – Eitelkeit des nicht genug gelobten Dichters? – eingeht. Die Versuchung einer inhaltlichen Abwertung wäre gerade bei Céline wegen seiner verbalen Maßlosigkeit groß, doch Bohrer analysiert lediglich die Erscheinungsform und attestiert ihr Durchgängigkeit und Durchschlagskraft. Nach dem Krieg kommen die Kolonialverwaltung und das kapitalistische Ausland in Gestalt New Yorks als Hass-Objekte hinzu. Kurz: vor Célines wohl formuliertem aber kompromisslosem Hass ist niemand sicher.
Daran schließt sich fast nahtlos Sartre an, dessen Hass allerdings eher eine Form polemischer Gesellschaftskritik darstellt und damit der Maßlosiskeit und Imagination ermangelt. Sartre zeigt – etwa in „Ekel“ – seine Abscheu vor den gesellschaftlichen Zuständen, bleibt aber bei seinen literarischen Abrechnungen immer auf intellektuellem Niveau und gerät nie in den Zustand imaginativen Hasses.
Die Österreicher, literarisch schon immer ein Sonderfall, treten bei Bohrer gleich im Dreierpack auf: Bernhard, Jelinek und Handke. Bei Bernhard liegt laut Bohrer eine Mischung weltanschaulich-politischen Protests und tief sitzenden Hasses vor, die sich beide vor allem gegen die Elterngeneration (3. Reich!), aber auch gegen aktuellen Opportunismus richten. Bei Elfriede Jelinek diagnostiziert Bohrer vor allem eine emotionale Abrechnung mit einer die Frauen systematisch unterdrückenden Welt. Handke attestiert Bohrer einen „subjektiven“ Hass, frei nach dem Motto „ich gegen den Rest der Welt“. Er ist auch der Einzige, dem Bohrer zumindest in Andeutungen Arroganz vorwirft. Dem Hass gegen Menschen (und deren Werke) steht laut Bohrer bei Handke jedoch eine geradezu schwärmerische Verehrung der Natur entgegen. Also auf Menschen gerichteter Hass.
Im deutschen Literaturbetrieb diagnostiziert Bohrer ein Hass-Defizit, das man durchaus auf die spezielle jüngere Geschichte zurückführen kann. Der Nationalsozialismus hat so viel Hass erzeugt, dass man mit eigenen Hass-Tiraden leicht in deren Nähe gerückt werden könnte. Hier erwähnt Bohrer lediglich den „Allround“-Hasser Rolf Dieter Brinkmann, der nur 35 Jahre alt wurde. Sein Hass richtet sich nicht gegen bestimmte Institutionen oder politische Richtungen, sondern gegen die ganze Welt. Er erreicht geradezu globale Ausmaße, ohne literarische oder persönliche Refugien. Von zeitgenössischen Schriftsteller-Kollegen bis zu Goethe verreißt er alles mit abgrundtiefer Abneigung, und eine Stadt wie Rom weckt seinen Hass trotz oder gerade wegen der vielen Altertümer. Eine kurze Abhandlung gilt dem ähnlich gelagerten Rainhard Goetz, der in seinem Buch „Hirn“ seine Umwelt mit bewusst abstoßenden Begriffen und Beschreibungen herunterschreibt.
Den Abschluss dieses Buch bildet eine längere Auseinandersetzung mit dem Franzosen Houellebecq. In ihm sieht Bohrer das Paradebeipiel zeitgenössischer Hass-Literatur. Seine Gewalt- und Sexual-Phantasmagorien sind Antworten auf die als endzeitlich empfundene Leere, Ignoranz und Dekadenz der Welt, die ihre Langeweile mit Sex zukleistert. Die endlosen pornographischen Zuspitzungen dienen also weniger Anregungszwecken als der Denunziation der Welt, so, wie sie ist. Ähnliches gilt für die Gewalt, die er bis ins Monströse steigert und im kleinsten Detail festhält. Wegen seines geradezu größenwahnsinnigen Hasses gesteht ihm Bohrer eine zentrale Rolle in der aktuellen westlichen Literatur zu. Dabei vermeidet er bewusst jede literarische oder gar gesellschaftliche Bewertung und Kritik, sondern lässt das Phänomen Hoouellebecq so stehen, wie es sich der Öffentlichkeit präsentiert, aber mit einer detaillierten Analyse seiner Vorgehensweise und seiner Zielrichtung. Dass auch diese Methode eine implizite Wertung enthält, liegt auf der Hand, doch Bohrer hütet sich davor, seine gestochen scharfen Analysen durch eine wie immer geartete Kritik im Sinne eines literarischen Wertekanons aufzuweichen. Der Leser ist aufgefordert, sich dazu eine eigene Meinung zu bilden. Material liefert Karl Heinz Bohrer genug.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 494 Seiten und kostet 28 Euro.
Frank Raudszus
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