Paul Linckes Operette „Frau Luna“ feierte bei der Premiere im Jahr 1899 und in vielen Aufführungen danach rauschende Erfolge. Das lag einerseits daran, dass diese Operette die Berliner und ihre spezielle Art deftig aber liebevoll aufs Korn nahm, andererseits aber auch an dem phantastischen wenn nicht absurden Sujet: der etwas naive Mechaniker Franz Steppke träumt von einer Reise zu Mond und Mars, vernachlässigt dabei seine lebenstüchtige Verlobte Marie und verärgert seine Vermieterin, die ihm kündigt. Darauf hebt er – im Traum! – mit zwei Freunden und ausgerechnet seiner Vermieterin (es ist halt ein Traum!) mit dem Heißluftballon ab zum Mond.
Dort treffen die vier Reisenden auf eine illustre Gesellschaft, bestehend aus Frau Luna und deren Zofe Stella, dem „Conferencier“ Theophil sowie einer großen Zahl von elfenartigen Mondwesen. Später gesellen sich noch Prinz Sternschnuppe, die schöne Venus und der kriegerische Mars hinzu. Alle diese „himmlischen“ Personen sind überkreuz unglücklich verliebt ineinander, und die plötzliche Ankunft der Erdenmenschen bringt alles durcheinander. Am Ende wacht Steppke aus seinem Traum auf und erkennt, dass ein normales Erdenleben und eine pragmatische Frau wichtiger sind als weltfremde Träume von Reisen durchs Weltall.
So weit so bieder – hat sich wohl Klaus-Christian Schreiber gedacht und Heinz Bolten-Baeckers braves Libretto aus dem Berliner „fin de siècle“ kurzerhand in aktuelles Deutsch übersetzt – aktuell hinsichtlich umgangssprachlicher Form sowie der Inhalte. Dabei hat er die jüngere (Berliner) Geschichte und auch den heutigen Zeitgeist kräftig mitschreiben lassen. Da schütteln die Mondbewohner den Kopf über eine Mauer, die quer durch Berlin gegangen sein soll, und Theophil hat als angeblicher Westler eine Affäre mit Steppkes damals hinter der Mauer lebender Vermieterin gehabt. Die Berliner und die deutsche Politik werden in vielen Andeutungen durch den Kakao gezogen (seltsamerweise angesichts des Themas „Fliegen“ hat man den BER ganz vergessen!), die Couplets zitieren auch mal „wir schaffen das“, und die Weltpolitik samt seltsamer scheinblonder Präsidentenkomiker und dem Klimawandel kommt ebenfalls nicht zu kurz. Und zum krönenden Abschluss verschafft Marie ihrem Franz sogar noch einen Job bei der ESOC in Darmstadt!
Es lohnt sich übrigens wirklich, die Übertitel zu verfolgen, weil sich Schreiber viele originelle Texte hat einfallen lassen, die sowohl Sprachwitz als auch Situationskomik und – nicht zuletzt – Gesellschaftskritik enthalten. Darüber hinaus nutzt er die Möglichkeit der gesprochenen Texte zu Seitenhieben auf alle möglichen politischen und gesellschaftlichen Problemfelder, die derzeit in den Medien durchdekliniert werden. Dabei wahrt er jedoch den humoristischen Ansatz und vermeidet polemische oder gar aggressive Suaden. Der satirische Charakter der Dialoge reicht zur Benennung der Missstände völlig aus und entspricht dem Grundtenor der Operette.
Allerdings lässt sich diese Inszenierung im ersten Akt etwas zäh an. Das liegt daran, dass Fliegen und Raumfahrt heute eine technische Selbstverständlichkeit sind, während sie 1899 schon aufgrund ihrer Absurdität die Lachmuskeln reizen mussten. Um ähnliche Heiterkeit zu wecken, müsste man heute schon vom „Beamen („Scotty“) schwadronieren. So aber denkt man bei allen Mono- und Dialogen über Reisen zum Mond und Mars reflexartig an den Juli 1969 oder an die Legionen von Robotern, die bereits auf Mond und Mars herumkurven. Der Lachmuskel wird dabei eher weniger strapaziert. Dazu kommt, dass Michael Pegher den Franz Steppke mit amerikanischem Akzent spielt. Ob er kein „balinisch“ kann, steht dahin, aber damit geht von der Hauptperson auch kein Mundartwitz aus. Für den muss als einzige Lena Sutor-Wernich als robuste Vermieterin Puse-Bach (bei Lincke heißt sie noch Pusebach!) sorgen, was sie überzeugend tut. Denn auch Dirk Weller und Jared Ice sind als Lämmermeier und Pannecke nicht gerade Dialektexperten.
So zieht sich der erste Teil bis zur traumhaften Ankunft des Quartetts auf dem Mond etwas hin, da auch noch viele technisch-wissenschaftliche Details von Raumanzügen über Schwarze Löcher bis zu Einsteins Energieformel präsentiert, zitiert und persifliert werden. Gerade die naturwissenschaftlichen Fakten nehmen dabei das Tempo aus der Handlung, weil sie bei Kennern sofort entsprechende Assoziationen wecken und bei den Laien gelangweiltes Achselzucken hervorrufen. Und dieser erste Teil ist von diesen Dialogen geprägt, der zwar auch humoristische Alltagssituationen enthält, doch mit eher gebremstem Witz, etwa, wenn Steppke gar nicht merkt, dass er Marie wegen seiner technischen Spinnereien zu verlieren droht. In solchen Momenten rutscht das Stück fast zum Ratgeber in Lebensfragen ab.
Doch sobald der Mond erreicht ist, geht im wahrsten Sinne die Post ab. Die gesamte Mondbevölkerung ist von der Rolle. Die Elfen mit ihren farbenfrohen Kostümen tanzen aufgeregt umher, und Theophil – von David Pichlmaier sehr geschmeidig gespielt – sieht sich plötzlich mit den Vorwürfen seiner ehemaligen Ostberlin-Geliebten konfrontiert. Jetzt nimmt auch die Handlung Fahrt auf, wenn sich die Diva Venus und der muskelbepackte Einfaltspinsel Mars verbal bekriegen oder wenn Prinz Sternschnuppe (Ziad Nehme) die unnahbare Frau Luna (Katharina Persicke) anschmachtet. Eine originelle Idee verortet die Mondzofe Stella als Produkt künstlicher Intelligenz, bei dem ein wackliges Sprachmodul auch mal zu unverständlichen Satzfetzen führen kann, und Frau Luna muss den träumenden Steppke mit sanfter erotischer Gewalt wieder auf den rechten Erdenpfad führen. Das geht im zweiten Teil trotz vieler satirischer bis beißender Bemerkungen über den Selbstzerstörungsdrang der Menschen witzig und temporeich zu und entwickelt (fast) nie moralinsaure Züge. Glücklicherweise hat man darauf verzichtet, eine der Figuren als Greta auszustaffieren und ihr entsprechende Texte unterzuschieben. Die Versuchung dieser Steilvorlage dürfte zumindest latent bestanden haben.
Außerdem spielt die Musik im zweiten Teil eine wesentlich größere Rolle als zu Beginn, wenn ein bekannter Schlager dieser Zeit dem anderen folgt, wobei die berühmte Eloge auf „die Berliner Luft“ wohl die bekannteste ist. Die Sänger und Sängerinnen präsentieren ihre Arien unabhängig von der durchweg hohen stimmlichen Qualität dabei stets mit einer gewissen Selbstironie, die dem Gesungenen keinen zu hohen emotionalen oder gar moralisierenden Wert beimisst. Darauf abgestimmt zeigt auch die darstellerische Präsenz durchgehend humorvoll-ironische Züge, so dass die bösen Bemerkungen über die unreife Menschheit „cum grano salis“ zu nehmen sind.
Eine gute Idee ist es auch, die Fremden von der Erde textlich wie szenisch wie Bootsflüchtlinge auf dem Mittelmeer zu behandeln. Da fallen dann auch mal Sätze über die Mondreisenden, die wir sonst nur über illegale Migranten kennen. Doch auch hier verzichtet Schreiber auf die harte Variante des unverhüllten Fremdenhasses und belässt es bei ironisch-satirischen Bemerkungen eher beiläufigen Charakters. Man weiß ja: in den Nebensätzen stehen immer die treffendsten Dinge!
Das Orchester unter der Leitung von Michael Nündel verleiht der Inszenierung durch bodenständige Klänge und sparsame Intonation insoweit Operetten-Charakter, als der Text mit seinen Sottisen voll zur Geltung kommt und nicht von den Klängen aus dem Graben zugedeckt wird. Überhaupt gibt es – vor allem im ersten Teil – längere Phasen ganz ohne Musik. Oder die Musik kommt auch einmal vom Band (bzw. CD) und schmiert dann situationsbedingt in immer tiefere Frequenzen ab. Alles kleine aber wirkungsvolle Ideen selbstironischen Charakters.
Dem Ensemble hat diese Inszenierung offensichtlich viel Spaß bereitet und dem Publikum nach einiger Anlaufzeit ebenfalls. Der kräftige und lang anhaltende Schlussbeifall bewies dies eindeutig.
Frank Raudszus
No comments yet.