Das vierte Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt spiegelt unfreiwillig ein wenig die geopolitische Lage wider: zwei bedeutenden Werken der russischen Komponisten Sergej Prokofjew und Sergej Rachmaninow wurde eins des US-Amerikaners Leonard Bernstein vorangestellt, der vor zwei Jahren seinen hundertsten Geburtstag gefeiert hätte. Ein Kräftemessen der Großen auf musikalischer Ebene, könnte man sagen. Die Leitung dieses Konzerts übernahm der lettische Dirigent Andris Pago, den Solopart am Klavier spielte die russische Pianistin Yulianna Avdeeva.
Leonard Bernsteins „Divertimento for Orchestra“ aus dem Jahr 1980 leitete das Programm ein. Es besteht aus acht kurzen Sätzen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Schon die ersten Takte des einleitenden „Sennen and Tuckent“ weckt mit den „Latin“-Rhythmen Assoziationen an die „West Side Story“. Der „Waltz“ kommt im fast klassischen Kleid abwechselnd im 4/4- und 3/4-Takt daher, vermittelt jedoch auch in der 4/4-Version den Eindruck eines Walzers. Die „Mazurka“ entwickelt choralartige Züge, der „Samba“ trägt robuste tänzerische Züge, und der „Turkey Trot“ erinnert an einen Marsch, aber mit Latin-Einschlag. Die „Sphinxes“ schleichen sich mit einem „Adagio lugubre“ in die Köpfe der Zuhörer, und der lyrische Blues besticht durch seine feinen Holzbläser-Passagen. Den Abschluss bildet ein fanfarenartiger Auskehr mit dem Titel „In Memoriam“ und sowohl feinen Piccolo-Passagen als auch einem kräftigen orchestralen Finale.
Dieses Stück steht exemplarisch für Leonard Bernsteins Kreativität und die klangliche Vielfalt seiner Musik. Jeder einzelne Satz entwickelt eine ganz eigene thematische und rhythmische Charakteristik, und die Kontuinuität liegt in den Kontrasten. Andris Poga arbeitete die instrumentale Vielfalt mit viel Gespür und Liebe für das Detail heraus und sorgte für eine hohe Transparenz des aufmerksam folgenden Orchesters.
Das zweite Werk des Abends steigerte die musikalische Dynamik noch. Sergej Prokofjews Klavierkonzert Nr. 1 in Des-Dur strotzt geradezu vor Dynamik, ohne deshalb die lyrische Seite ganz zu vernachlässigen. Doch im Mittelpunkt steht diese sicherlich nicht. Das in den Jahren 1910/11 entstandene Stück steht zwar in der tonalen Tradition des 19. Jahrhundert, sprengt jedoch dessen formalen Vorgaben. Nicht mehr das eingängige, mehrtaktige Thema wie in Klassik und auch noch Romantik steht im Vordergrund, sondern der unmittelbare musikalische Ausdruck, der sich aus der variierten Wiederholung kurzer Motive ergibt. Pianistisch stellt dieses Werk höchste Anforderungen, nicht nur technisch, sondern im wahrsten Sinne des Wortes physisch. Schnelle Akkordketten wechseln sich mit ebenso schnellen aufwärts oder abwärts führenden Passagen mit extensiven Übergriffen beider Hände und schnellen Läufen ab. Yulianna Avdeeva war sichtlich mit dem gesamten Körper gefordert, meisterte diese schwierigen und langen Passagen jedoch mit Bravour.
Die typische Satzaufteilung des Solokonzerts – schnell, langsam, schnell – ist bei Prokofjew zwar formal auch noch vorhanden, wird aber durch weitgehend freie Gestaltung der einzelnen Sätze aufgebrochen. So beinhaltet der erste Satz eine intensive langsame Passage, und das „Andante“ des zweiten Satzes trägt nicht ohne Grund den Zusatz „assai“. Aufrund der schnellen Akkordketten und der oft wechselnden Tempi stellt das Zusammenspiel mit dem Orchester besonders für letzteres hohe Anforderungen, da es nicht den Freiheitsgrad hat wie der Solist. Hier ist es die Aufgabe des Dirigenten, im Detail für saubere Einsätze der dichten Orchesterpassagen zu sorgen. Vor allem die ausgeprägte Dynamik mit plötzlichen Crescendi oder kurzen Orchesterschlägen erfordert höchste Aufmerksamkeit und genaues Hinhören. Andris Poga achtete hier auf jedes Detail, und das Orchester folgte ihm mit hoher Präzision.
Nach der Pause erklang dann Rachmaninows dritte Sinfonie in a-Moll aus den Jahren 1935 bis 1938. Erstaunlich für die Entstehungszeit ist der tonale Charakter, der an die Spätromantik erinnert. Schon die ersten Takte lassen an Dvorak oder Brahms denken, später kommen dann Ähnlichkeiten mit Bruckner oder gar Wagner auf. Diese spätromantischen Ansätze werden immer wieder konterkariert durch kurze harmonische oder rhythmische Schärfungen, um dann wieder in weit ausholende Bögen wie bei den genannten Vorbildern überzugehen.
Auch bei Rachmaninow werden die markanten Themen der Romantik ersetzt durch kurze Motive oder musikalische Figuren, die zum Teil von einzelnen, stets wechselnden Instrumenten mit der entsprechenden kontrastreichen Klangfärbung vorgetragen werden. Der zweite Satz beginnt mit einem einfachen, lang ausgehaltenen Horn-Motiv und geht dann über in eine polyphone Vielfalt verschiedener Instrumente, die jeweils kurze Motive vortragen und diese dann dem Orchester übergeben. Hier sorgte Andris Poga für höchste Transparenz, so dass die Vielfalt nie zu einem unentwirrbaren Klanggemisch verflachte, sondern jeder Stimme ihre Präsenz beließ.
Der Finalsatz – diese Sinfonie besteht nur aus drei Sätzen – beginnt mit einer fast schon schrillen Fanfare des gesamten Orchesters, um dann in ruhigere, weite Bögen überzugehen. Auch in diesem Satz betont Rachmaninow die instrumentalen und dynamischen Kontraste und erzeugt damit permanent wechselnde Klangräume, so dass man fast den klischeebehafteten Satz vom „Wandern durch die musikalischen Welten“ bemühen möchte. Am Ende steuert dieser Satz auf einen mächtigen Schluss mit kraftvoller Akkordentfaltung zu.
Das Orchester bewies auch in diesem Werk seine hohe Intonationsqualität, wobei auch hier wieder die Bläser eine wichtige Rolle spielten, seien es nun die weichen Klarinetten oder die präzis-präsenten Hörner. Damit seien jedoch nur beispielhaft einige Instrumente angeführt, denn das Orchester als musikalischer Körper leistete in allen Bereichen ausgesprochen präzise und im Ausdruck vielfältige Arbeit. Daran hatte sicher auch Dirigent Andris Poga einen wesentlichen Anteil.
Frank Raudszus
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