Den Gefühlen auf den Grund gegangen

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Der englische Schriftsteller Walter Scott hat in seinem Roman „Die Braut von Lammermoor“ die übersteigerten Ehrbegriffe und das gnadenlos patriarchalische, die Frauen unterdrückende System der britischen Aristokratie kritisiert. Die Handlung ist schnell erzählt: Lucia aus dem Haus Ashton liebt Edgardo, den letzten Spross einer verfeindeten Familie, der die Ashtons nicht nur alle Habe, sondern auch die Ehre genommen haben. Die eigene Familie kann aber dem sozialen Absturz nur durch eine vorteilhafte Heirat Lucias mit dem angesehenen und reichen Adligen Arturo entgehen. Man zwingt sie unter üblen Intrigen zur Heirat, doch sie bringt Arturo in der Hochzeitsnacht um und verfällt dem Wahnsinn.

Julian Orlishausen, Bianca Tognocchi, Opernchor des Staatstheaters Darmstadt

Gaetano Donizetti und sein Librettist Salvadore Cammarano haben diesen dramatischen und personenreichen Roman konsequent für die Bühne verdichtet und verkürzt. Die historischen Hintergründe spielen keine Rolle mehr, und aus Rezeptionsgründen haben die beiden die Handlung irgendwo ins Italien des 17. Jahrhunderts verlegt. Der seelische Konflikt der Hauptperson Lucia und die rücksichtslose Konsequenz des selbst mit dem Rücken zur gesellschaftlichen Wand stehenden Bruders Enrico, der kurzerhand die gesamte Familie Ashton in Personalunion vertritt, stehen im Mittelpunkt. Schon Edgardo spielt eher eine erweiterte Nebenrolle, da er nur reagiert und dem Geschehen weitgehend machtlos ausgeliefert ist. Arturo, Raimondo – Lucias Vertrauter und Erzieher – und Lucias Gefährtin Alisa sind auf ihre für den Fortgang der Handlung benötigten Funktionen reduziert.

Bianca Tognocchi, Opernchor des Staatstheaters Darmstadt

In Darmstadt hat der Argentinier und Wahldeutsche Marcos Darbyshire Donizettis Oper neu inszeniert. Dazu hat er sich die italienische Sopranistin Bianca Tognocchi als Gastsängerin nach Darmstadt geholt, die sich mit dieser Rolle bereits Meriten verdient hat. Darbyshire greift Donizettis Konzept der Verdichtung auf und setzt es konsequent um. Die Handlung konzentriert sich weitgehend auf den Konflikt zwischen Lucia und Enrico und treibt schnörkellos auf das dramatische Ende zu. Mit dieser Zuspitzung verdeutlicht Darbyshire die unmenschliche Praxis einer patriarchalischen Gesellschaft, Frauen nur als Verfügungsmasse im Spiel um Macht und Status zu betrachten.

Das Bühnenbild von Robert Schweer entwickelt gleich zu Beginn metaphorische Wirkung. Während der Ouvertüre verengt ein massiver Guckkasten die Bühne, in dem neben einem Bett nicht viel mehr hineinpasst. Während sich Lucia unter der Bettdecke versteckt, liegt Enrico wie ein Wachhund davor, und Raimondo windet sich unglücklich an der Rückwand entlang. Diese enge Behausung symbolisiert die existenzielle Enge und eingeschränkte Bewegungsfreiheit, unter der Lucia leidet, so dass sie nur unter der Bettdecke eine Privatsphäre findet. Enrico überwacht ihr Leben Schritt für Schritt, und Raimondo, der eigentlich für die Entwicklung der jungen Frau verantwortlich ist, muss sich vollständig den Anordnungen des Bruders fügen. Er wird bis zum Schluss unter diesem Konflikt leiden.

Jaroslaw Kwaśnievski, Bianca Tognocchi, Julian Orlishausen, Opernchor des Staatstheaters Darmstadt

In eben diesem Raum informiert Normanno Enrico über eine eventuelle Liebesbeziehung zwischen Lucia und Edgardo, und die beiden beschließen, das auf jeden Fall zu verhindern. Nahezu gleichzeitig wird ein erlegter Hirsch an der Decke aufgehängt, den Enrico ausweiden muss. Auch hier ist die Symbolik greifbar, vor allem, wenn er das Blut des toten Hirsches metaphorisch besingt. Auf die roten Schläuche, die wenig authentisch als vermeintliche Eingeweide aus dem Bauch des Hirsches fallen, hätte man dabei auch verzichten können.

Wenn Lucia dann mit Alisa auftritt, weitet sich die Bühne zu einer großen Freitreppe. Hier atmet Lucia in der Erwartung Edgardos Freiheit und gedankliche Weite, denn in ihrem vermeintlichen Glück kennt sie keine Einschränkungen. Im weiteren Verlauf der Inszenierung verliert sich dieser metaphorische Charakter des Bühnenbildes, und eine drehbare Darstellung des Salons der Ashtons mit vielen Ahnenbildern dominiert die Bühne. Hier spielt sich das Drama um Lucias Zukunft ab, während Edgardo an der prosaischen Rückwand der Bühnenbildkonstruktion haust, die als Symbol des verwitterten Turms aus dem Roman dient.

Julian Orlishausen, Opernchor des Staatstheaters

Die Bedeutung der aristokratischen Tradition dieser Gesellschaft kommt in einem großen Tafelbild zum Ausdruck, das gut ein Dutzend ehemaliger Ashtons mit Mühlsteinkrause zeigt. Eine geschickte elektronische Steuerung ermöglicht es dabei, einen Chorsänger im besagten Kragen aus dem Bild heraus singen zu lassen, so dass tatsächlich der Eindruck entsteht, einer der gemalten Köpfe sei zum singenden Leben erwacht. Das Makabre an dieser Stelle liegt in dem gesungenen Text, der die Intrige enthüllt, mit der Enrico das Liebespaar entzweien will. Ein dezenter Hinweis darauf, dass es hier nicht um die Schuld einer Einzelperson sondern um die der ganzen Familie geht. Diesen Verweis auf die Familie verstärkt Marcos Darbyshire noch mit einem älteren Komparsen, der das Familienoberhaupt im Rollstuhl spielt. Der alte Ashton hängt am Beatmungsschlauch und verfolgt das Drama um Lucias Verheiratung nur optisch, ohne verbal – außer einem gutturalen Schrei – eingreifen zu können. Seine Reaktion ist daher zumindest ambivalent und lässt sich ebenso als Ärger gegenüber der unbotmäßigen Tochter wie als Entsetzen über Enricos Vorgehen deuten.

Der Chor tritt in dieser Inszenierung vorwiegend als höhere Gesellschaft in Kostümen des frühen 19. Jahrhunderts auf. Unbewegten Gesichtes und ohne Anzeichen irgendwelcher Empathie verfolgt die nahezu bewegungslose Hochzeitsgesellschaft im festlichen Ornat Lucias Tragödie und wendet sich zum Schluss sogar angewidert von der dem Wahnsinn verfallenen zwangsverheirateten Gattenmörderin ab.

Lucia und Enrico sind in dieser Inszenierung authentische Figuren. Lucia glaubt in fast naiver Schwärmerei an die Liebe und an ein gutes Ende, bis Enricos Machenschaften sie brutal aus ihren Träumen reißen. Enrico (Julian Orlishausen) ist jedoch kein klischeehafter Fiesling, sondern eher ein von Tradition und gesellschaftlichem Druck getriebener Charmeur, der seinen Charme konsequent ablegen kann, wenn es ums Ganze geht. Doch bis zum Schluss behält dieser Enrico einen Rest Menschlichkeit, die sich nach dem Mord Lucias an Arturo ins Entsetzen wendet. Und dieser Enrico scheint in Lucias Wahnsinnsszene auch über seine Schwester und über seine eigene Brutalität zu weinen. In Abwandlung des originalen Librettos lässt sich Enrico dann auch fast widerstandslos von seiner Schwester erstechen. Diese Charakterisierung Enricos als fehlbarer Mensch verleiht der Inszenierung eine menschliche Ambivalenz jenseits eines einfachen Gut-Böse-Schemas.

Chor des Staatstheaters Darmstadt

Die Leistungen der Sänger werden dem hohen Anspruch dieser Inszenierung vollauf gerecht. Bianca Tognocchi verleiht der Lucia eine wahrhaft authentische Aura, angefangen von der schwärmerischen, fast ein wenig narzisstischen Verliebtheit des Beginns über das verzweifelte Entsetzen bei der aufgezwungenen Eheschließung bis zum lächelnden Wahnsinn des Endes. Tognocchi verfällt in keinem Augenblick der Gefahr des Klischees, die ja vor allem bei der Darstellung existenzieller Grenzzustände stets gegeben ist. Ihre Stimme ist in jeder Lage makellos und wirkt selbst in den Höhen und schnellen Lagewechseln nie angestrengt. Julian Orlishausen ist ihr ein vollwertiger Partner, der durch sein variables Spiel und seine präsente Stimme für eine Balance des Bühnengeschehens sorgt. David Lee füllt die Rolle des Edgardo vor allem durch gute gesangliche Leistungen aus, doch auch darstellerisch verleiht er der Rolle des Gedemütigten ein glaubwürdiges Profil.

Johannes Seokhoon Moon gibt den Raimondo als innerlich zerrissenen Mann, der weiß, dass er seiner Verantwortung Lucia Vertrauter nicht gerecht wird, ja, sie letztlich sogar verrät. Und Jaroslav Kwasniewski spielt den Arturo konsequent als selbstherrlichen Dandy, der sich auf der Sonnenseite des Lebens wähnt.

Das Orchester unter der Leitung von Andriy Yurkevych setzt die Akzente in den entscheidenden Momenten richtig und überzeugt vor allem in den düster drohenden Szenen, wenn sich die Tragödie anbahnt. Aus dem Graben steigt mit zunehmender Dauer der Klang der nahenden Katastrophe auf, die sich schließlich in der Wahnsinnsszene entlädt, jedoch nicht im grellen Fortissimo, sondern in scheinbar freundlichen Figuren – schließlich lächelt die wahnsinnige Lucia ihren Bruder freundlich an – mit untergründigen Klangfarben.

Diese Inszenierung hält den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Szene und entlässt die Besucher keinen Augenblick aus ihrem Bann.

Frank Raudszus

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