In Zeiten der „Fake News“ und alternativer Fakten ordnet man ein Buch mit dem Titel „Wahre Lügen“ intuitiv als eines über aktuelle politische und gesellschaftliche Vorurteile ein: Xenophobie, Leugnen des Klimawandels und Ablehnung alles Neuen. Doch sehr schnell zeigt Kai Schreiber, der Autor dieses Buches, dass es um viel mehr, quasi um die existenziellen Grundlagen des Wahrnehmens und des Urteilens geht.
Schreiber ist Physiker, Neurologe, Philosoph, Skeptiker und daneben unverbesserlicher – Humorist! Nicht zuletzt letztere Eigenschaften lässt bei der Lektüre des alle überkommenen Vorstellungen über Welterkenntnis gnadenlos zerstörenden Buches dennoch punktuell Heiterkeit aufkommen.
Gleich in der Einleitung erdet Schreiber die hehre Vorstellung, die menschliche Gesellschaft suche die Erkenntnis des Wahren und Guten auf der Basis eines rationalen Diskurses, und unter Heranziehung von Harry S. Frankfurts „Bullshit“ stellt er die These auf, dass die Evolution den Menschen eben nicht zum Erkennen der „Wahrheit“, was immer das ist, geformt hat.
Nach einem Gang durch die mit dem Urknall beginnende Erdgeschichte im Zeitraffer, der hauptsächlich der Funktionsweise der Evolution gewidmet ist, kommt Schreiber auf den Begriff der Wahrnehmung zu sprechen. Diese gilt mit ihren Komponenten „Sehen, Hören, Fühlen, etc.“ sowie dem Intellekt als die Grundlage aller Erkenntnis. Schreiber verdeutlicht dabei, dass nicht der Wahrheitsdrang die Evolution vorantreibt, sondern allein der Überlebensdrang. Im Überangebot der optischen und akustischen Reize sind auch wichtige Informationen zum Überleben enthalten. Hinter dem Rascheln im Busch kann ein Fressopfer oder eine tödliche Gefahr lauern, und die Wahrnehmung muss schnell nach Wahrscheinlichkeiten handeln. Wer immer nur die Gefahr ahnt, verhungert, wer stets nur einen leckeren Happen wittert, fällt dem Säbelzahntiger zum Opfer. Nur die richtige Einschätzung der Wahrscheinlichkeit ermöglicht das Überleben.
Daraus entwickelt Schreiber die These, dass eine Erkenntnis der „Wahrheit“ unmöglich ist, und dass sogenannte „Illusionen“ sich grundsätzlich nicht von der Wirklichkeit unterscheiden, weil beide nur selbst geschaffene Bilder der Realität sind, die unsere Sinne zwecks Überleben erstellen. Dabei geht es nur um die unterschiedliche Nützlichkeit dieser Bilder. Und da die Wahrheit über eine gegebene Situation nicht ermittelbar ist, verlässt sich der Mensch auf „Vorurteile“ im wahrsten Sinne des Wortes, weil er nur mit dem bereits „Vorgewussten“ mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit richtig reagiert.
In diesem Zusammenhang verweist er auf den Mathematiker Thomas Bayes, der die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung schuf und vor allem einen wichtigen Satz über bedingte Wahrscheinlichkeiten entwickelte. Dieser „Satz von Bayes“ ist für Schreiber ein wichtiger Eckpfeiler für alle Erkenntnis dessen, was um uns herum geschieht. Aus der Tatsache des Rauschens im gesamten Spektrum der Informationen und aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung schließt Schreiber, dass Erkenntnis einer wie auch immer gearteten „Wahrheit“ für den Menschen unmöglich ist. Bei Anhebung der Reizschwelle können (überlebens)wichtige Informationen verloren gehen, bei Absenkung gehen sie im Rauschen unter. Das zeigt Schreiber eindrücklich an verschiedenen wissenschaftlichen Tests zur Wahrnehmung, die auch auf „Youtube“ nachzuschauen sind.
Auch dem berühmten Dualismus von Körper und Geist macht Schreiber den Garaus. Es gibt keinen „Geist“, der abgekoppelt vom Körper Thesen entwickeln und Wahrnehmungen deuten kann. Bewegung resp. „Handeln“ und Wahrnehmung bzw. deren Verarbeitung sind in beiden Richtungen eng miteinander verwoben. Nicht nur ist das Handeln durch die Wahrnehmung bedingt, sondern auch umgekehrt, da die Handlung in den meisten Fällen die Wahrnehmung verändert. Als Beispiel führt Schreiber hier das Raubtier an, das zum Sprung auf die Beute ansetzt. Ohne eine vorausschauende Simulation der durch den Sprung geänderten Wahrnehmung wäre das Tier vollständig desorientiert. Nicht ein abgekoppelter Geist steuert die Handlung aufgrund der Wahrnehmung, sondern beide beeinflussen sich direkt gegenseitig.
Auch das „Ich“, das so gerne in der Belletristik besungen wird, ist keine wissenschaftlich nachweisbare Größe, sondern Einbildung, wie verschiedene Tests am lebenden Objekt nachgewiesen haben. Ein spektakuläres Experiment mit einem Patienten, dessen Gehirnhälften nicht (mehr) miteinander kommunizieren konnten, zeigte eindeutig, dass Entscheidung nicht bewusst in einer zentralen Stelle des Gehirns fallen, sondern automatisch, ohne dass sich das „Ich“ der Testperson darüber im Klaren ist. Das hatte schon Benjamin Libet in seinem Buch „Mind Time“ nachgewiesen und damit heftige Proteste von Philosophie und Theologie hervorgerufen.
Schreiber zeigt die direkte Verbindung von Wahrnehmung und Handlung noch an einigen weiteren Experimenten mit Testpersonen, bei denen außergewöhnliche Wahrnehmungs- bzw. Verarbeitungsdefekte zu erstaunlichen Ergebnissen führten, die nur durch eine direkte Kopplung von Wahrnehmung und Reaktion zu erklären waren. Anhand weiterer eingängiger Beispiele zeigt Schreiber, dass das Gehirn aufgrund der eigenen Bewegung permanent die zukünftige Umgebung simuliert. Nur so kann man beim Ballsport die Flugbahn vorhersehen oder einem herabrollenden Stein ausweichen. Diese Simulationen sind Bestandteile des Wahrnehmungssystems und keinem abgekoppelten „Geist“ oder „Ich“ zuzurechnen. Sie dienen letztlich dem Überleben des Organismus.
Ein zentrales Kapitel widmet Schreiber der Kooperation, die er als wissenschaftliche Version der idealistischen Begriffe „Nächstenliebe“ und „Altruismus“ vorzieht. Auch hier hat die Evolution den Vorzug der Kooperation gegenüber dem Egoismus erkannt und im Menschen verankert. Am Beispiel des berühmten Gefangenendilemmas zeigt Schreiber, dass die effektivste Kooperation nach dem Motto „Tit for Tat“, zu Deutsch: „Wie du mir, so ich dir“, verläuft. Psychologische Experimente auf der Basis des oben erwähnten Dilemmas haben diese Sicht auf beeindruckende Weise bewiesen. Kooperation funktioniert nur, wenn Vertrauen vorliegt. Ansonsten ist der Verrat die beste Alternative zur Kooperation.
In diesem Zusammenhang untersucht Schreiber auch das Kopieren von Verhaltensmustern. Anhand einschlägiger Experimente weist er nach, dass die Verhaltensweise der jeweiligen Gruppe weitgehend auch das Verhalten des Einzelnen bestimmt, selbst wenn die Gruppe offensichtlich falsch liegt. Die Furcht vor der Ausgrenzung ist größer als die Suche nach der Wahrheit. Das führt dann direkt zu den Magiern und Zauberern, die es schaffen, die Wahrnehmung des Individuums beliebig zu manipulieren, indem sie die Aufmerksamkeit ablenken. Das hat natürlich nicht nur peinliche Effekte im Kleinen zur Folge, sondern kann durch Demagogen zusammen mit dem Gruppendruck auch gesellschaftlich und politisch ausgenutzt werden.
Zum Ende diskutiert Schreiber noch einmal den scheinbaren Gegensatz zwischen Gefühlen und rationalem Denken, der von interessierten Kreisen gerne in dem Sinn zugespitzt wird, dass die Wissenschaft kalt und hartherzig ist. Dabei zitiert er völlig frei aber unverkennbar Mephistos Suada über die Wissenschaft aus Goethes „Faust“ und bemüht – natürlich ironisch – auch noch die Feststellung von Exupérys „Kleinem Prinzen“, man sehe nur mit dem Herzen gut. Diesen scheinbaren Gegensatz löst er dahin dahingehend auf, dass Gefühle und Verstand zwei Seiten derselben Medaille sind. Der Verstand ist nur für die Analyse zuständig, kann aber nicht entscheiden. Dafür sind letztlich nur die Gefühle zuständig, doch eine Gefühlsentscheidung ohne vorherige Analyse kann in eine Katastrophe münden.
Den Schluss bildet eine Abhandlung über die Anosognie, zu deutsch: „Nichterkenntnis der Krankheit“. Diese bringt er mit Gruppenidentitäten zusammen, die in weiteren Experimenten als ausschlaggebend für Meinungen herausgefiltert wurden. So hingen bei Umfragen in den USA zum Klimawandel die Antworten deutlich von der Zugehörigkeit zu Republikanern resp. Demokraten ab, obwohl konträre Kontrollfragen im Sinne der allgemeinen Logik beantwortet wurden. Das ließ deutlich auf Anosognie schließen, da die Befragten ihre eigenen Widersprüche nicht nur nicht erkannten, sondern bei entsprechendem Hinweis auch bestritten. Schreiber nutzt dieses Beispiel geschickt, um abschließend noch einmal die Werte der Aufklärung zu betonen, wobei die Logik schließlich dazu führt, dass der Zweifler der Aufklärung schließlich auch an dieser zweifelt. „Quod erat demonstrandum“, könnte der Logiker da sagen, oder. „Die Aufklärung schafft sich ab“, wie man in den USA und Großbritannien gerade sieht.
Außer durch seine hellsichtigen Ausführungen besticht Schreiber auch durch seinen Humor und seine direkte Art zu schreiben. So stellt er zu Beginn gleich eine Reihe gut klingender Thesen auf, die er umgehend als nicht (von ihm) belegt zurücknimmt, nicht ohne den Leser düpiert zurückzulassen. So zeigt er leichtfüßig ein ums andere Mal, wie leicht man die Wahrnehmung täuschen kann, in diesem Fall durch glaubhafte Thesen aus berufenem Munde. Und sein Humor macht auch vor sportlich-saloppen Redewendungen oder spontanen Wortschöpfungen wie „Pestopastapiste“ nicht halt. Es gibt also immer wieder trotz des scheinbar(!) trockenen Themas viel zu schmunzeln.
Das Buch ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 332 Seiten und kostet 22 Euro.
Frank Raudszus
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