Gleich im ersten Sinfoniekonzert der noch frischen Theatersaison kam ein Gastdirigent zum Zuge: der Grieche Vassilis Christopoulos, der den Weg zum Pult über eine Karriere als Orchestermusiker an der Oboe gefunden hatte. Er kennt also beide Seiten des Konzertbetriebes.
Sein Programm war jedoch nicht mediterran angehaucht, sondern rekrutierte sich aus Werken von Komponisten der klassischen europäischen Musikländer: Österreich, Ungarn und Russland. Joseph Haydns Sinfonie Nr. 100 eröffnete den Abend, danach folgte ein Solokonzert des Ungarn Peter Eötvös, und nach der Pause erklangen Sergej Rachmaninows „Sinfonische Tänze“. Dabei kamen beide Solisten des Solokonzerts aus dem Darmstädter Orchester. Iris Rath an der Flöte und Michael Schmidt an der Klarinette.
Joseph Haydns Sinfonie Nr. 100 entstand 1794 in London. Mozart war gerade vier Jahre tot, und diese Sinfonie zeigt zum Einen die Ähnlichkeit, zum Anderen den elementaren Unterschied dieser beiden Komponisten. Erstere findet man in der Harmonik und der Melodieführung, letztere vor allem in der Dynamik. Haydns Sinfonie ist von einer geradezu statischen Metrik. Alle Tempi werden mehr oder weniger durchgehalten, und es gibt keine plötzlichen Tempoänderungen oder gar rhythmische Wechsel innerhalb eines Satzes. Außerdem beschränkt sich Haydn weitestgehend auf die bis dahin üblichen „schreitenden“ Rhythmen, die in der höfisch und klerikal orientierten Musik dominierten.
Der erste Satz ist von einem deutlichen Marschrhythmus und einem großen akustischen Gestus geprägt. Bereits das erste Flötenthema verweist auf den Charakter der „Militärmusik“, da Flöten wegen der guten Handhabbarkeit beim Marschieren beim Militär schon immer beliebt waren. Der zweite Satz zeigt zu Beginn eher tänzerische Züge, dann setzen sich jedoch mit Hornsignalen, Trommelwirbeln und Paukenschlägen die nicht zu überhörenden militärischen Eigenschaften durch, und man fühlt sich buchstäblich in eine Schlacht des späten 18. Jahrhunderts versetzt. Im dritten Satz mit seinem mäßigen 3/4-Takt fallen vor allem die raffinierten rhythmischen Rückungen auf, während der Finalsatz sich durch das Wandern der musikalischen Motive durch die einzelnen Instrumentengruppen auszeichnet.
Das Orchester brachte all diese Eigenschaften der Haydn-Sinfonie mit hoher Präzision und einem ausgewogenen Klangbild zum Ausdruck, und Vassilis Christopolous führte das Orchester mit geschmeidigen aber deutlichen Armbewegungen, die souveräne Partiturbeherrschung widerspiegelten.
Für das Solokonzert „Shadows“ für verstärkte Flöte, Klarinette und Orchester musste die Sitzordnung geändert werden. Die Bläser saßen nun vorne, aber mit dem Rücken zum Publikum, so dass sich ihre Klänge in der Mitte mit denen der im Hintergrund frontal angeordneten Streicher trafen. Genau an diesem Schnittpunkt standen die Solisten Iris Rath und Michael Schmidt und überlagerten den zentralisierten Klangraum des Orchesters mit ihrem Solospiel.
Das Besondere dieser Komposition ist der Raumklang, der sich aus der beschriebenen Anordnung ergibt. Dazu kommt der transparente, um nicht zu sagen knappe und bisweilen nur punktuelle Einsatz des Orchesters, das die kurzen Motive der Flöte und der Klarinette auf geradezu minimalistische Weise begleitet. Ein zentrales Moment dieser Musik sind die Pausen, teils als Generalpause, aber mehr noch als Pausen zwischen Motiven und einzelnen Tönen. Alle Beteiligten scheinen den einzelnen Tönen geradezu nachzulauschen. Dazu liefert eine kleine Trommel unmittelbar neben den Solisten zarte perkussive Elemente. Vor allem im dritten Satz – „Lento assai“ – überwiegen die dunklen Klangfarben und der Charakter einer Trauermusik. In den lyrischen Momenten entwickeln vor allem die Motive der Flöte und der Klarinette eine ferne, fast schwebende Aura, der man sich schwer entziehen kann. Den letzten – zarten – Akzent setzt die kleine Trommel des Perkussionisten.
Für ihre Entstehungszeit im Jahr 1996 ist diese Musik erstaunlich tonal. Sie verzichtet außerdem auf jegliche elektronische Klänge oder externe Geräusche und stützt sich vollständig auf die „natürliche“ Klangerzeugung ab. Auch die Melodieführung, soweit man bei den kurzen Motiven davon reden kann, lässt Ähnlichkeiten zu herkömmlichen Musikstilen erkennen. Der Hauptunterschied liegt in der starken Betonung der Pausen zwischen Klängen und Tönen, die eine ganz eigene Spannung erzeugen. Dieses Musikstück vermittelte einen ganz eigenen Eindruck von zeitgenössischer Musik und mag manchen Zuhörer mit dieser versöhnt haben. Iris Rath und Michael Schmidt taten das ihre, die unterschiedlichen Ausdrucksvarianten dieser Musik überzeugend und berührend zum Ausruck zu bringen.
Nach der Pause rundeten die „Sinfonischen Tänze“ von Sergej Rachmaninow“ das düstere Bild der Musik von Peter Eötvös noch ab. In dieser im Jahr 1940 entstandenen Komposition lässt Rachmaninow noch einmal ein untergegangenes Zeitalter, das 19. Jahrhundert, aufleben, und das durchaus mit ironischem Unterton. Erstaunlich sind dabei die Tonalität und die Orchestrierung, die sich – vom Einsatz des Saxophon angesehen – an der Spätromantik orientieren. Der erste Satz ist nach einem zarten Beginn von schroffen Akkorden und düster absteigenden Motiven geprägt. Dann erinnern die liedhaften Motive der Bläser und die weiten Bögen der Streicher an Filmmusik. Der folgende Aufschwung zum Tänzerischen geht über ins Strahlende, dann ins Schroffe, wobei aufbegehrende Motive den Charakter des Satzes prägen. Der zweite Satz beginnt mit Bläserfanfaren. Die darauf folgende und wohl ironisierte Walzernostalgie weicht bald einer freien Metrik mit skeptischen bis pessimistischen Untertönen. Der letzte Satz beginnt mit harten Orchesterschlägen, denen unruhige, fast angstvolle Motive folgenden. Eine drohende Grundstimmung durchzieht diesen Satz, der zu einem echten „lento assai“ herabsinkt, bevor er sich zu einem fast apokalyptischen Schluss-Crescendo steigert. Angesichts des Entstehungsjahrs (1940) und der persönlichen Lebenserfahrungen Rachmaninows (Erster Weltkrieg, Revolution, Exil) kann man dieses Werk durchaus als ein persönliches musikalisches Testament verstehen.
Das Orchester lief unter der klugen Leitung von Vassilis Christopoulos noch einmal zu Hochform auf und bewies ein Höchstmaß an Präzision, Transparenz und – vor allem! – Dynamik vor allem im letzten Satz. So kann man auch formal „rückwärts gewandte“ Musik des 20. Jahrhunderts als glaubwürdiges musikalisches Bekenntnis dieser Epoche präsentieren.
Das Publikum war begeistert und spendete lang anhaltenden Beifall.
Frank Raudszus
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