Saśa Stanišić, Herkunft

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In seinem 2019 erschienenem Roman „Herkunft“ erzählt Saśa Stanišić die eigene Familiengeschichte, das heißt eine Geschichte von Flucht, Ankunft und Neuorientierung in Deutschland, aber auch von Sehnsucht nach dem Verlassenen, von den unterschiedlichen Erzählungen der Erinnerung.

Die stark autobiographisch geprägte Erzählung aus der Sicht des inzwischen erwachsenen Saśa thematisiert die Vielschichtigkeit des biographischen Bruchs, der durch Flucht ausgelöst wird.

Der 14-jährige Saśa lebt in Viśegrad, Bosnien, aufgehoben in einem engen familiären Zusammenhalt, der insbesondere durch die Großmutter Kristina verkörpert wird. Saśa führt das ganz normale Leben eines 14-jährigen mit Schule, mit seinen Freunden und mit den Eltern. Man ist muslimisch, aber Religion spielt im Vielvölkerstaat Jugoslawien keine Rolle. Das ändert sich mit dem Zerfall des sozialistischen Vielvölkerstaates Jugoslawien. Plötzlich werden Ethnien und Religion zum Kriterium für Ausgrenzung und Verfolgung.

1992 flieht Saśa mit seiner Mutter, nachdem sie vor den bevorstehenden Verfolgungen gewarnt worden sind. Über Kroatien gelangen sie nach Heidelberg, wo sie schließlich im Vorort Emmertsgrund eine Wohnung bekommen. Der Vater folgt später nach.

Stanišić erinnert sich, wie seine Integration in die neue Umgebung über die Sprache läuft. In der Förderklasse findet sich eine bunte Vielfalt von ethnischen Gruppierungen, die für die Jugendlichen keine Rolle spielt. Sie vereint, dass sie alle der neuen Sprache nicht mächtig sind und mit den gleichen Problemen zu tun haben. Stanišić als Erzähler zeigt, wie jeder Einzelne auf seine Weise versucht, in der neuen Lebenswelt Halt zu finden. Die Gruppe ist dabei der wesentliche Bezugspunkt. Mit der Erweiterung der Sprachkenntnisse ist die Integration in die Regelklasse ein weiterer Schritt in Richtung Normalität.

Dennoch bleibt die soziale Ungleichheit, die Scham des Jugendlichen, dass die Eltern nicht mithalten können, dass man nicht die Eltern des Freundes einladen kann; die Angst, dass der Vater beim Basketballturnier Serbokroatisch sprechen und ihn damit blamieren könnte.

Die Entfremdung zwischen Sohn und Eltern ist das Ergebnis der unterschiedlichen Möglichkeiten. Die Eltern müssen sich auf dem Arbeitsmarkt verkaufen, nehmen Jobs an, die weit unter ihren Qualifikationen liegen. Sie haben nicht die Chance wie der Sohn, die Sprache von Grund auf zu lernen.

Die drohende Abschiebung der Eltern und deren schließliche Auswanderung in die USA manifestiert dieses Auseinanderdriften der Familie. Die Eltern kommen nie richtig an in Deutschland, während es dem Sohn gelingt, als Schriftsteller eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland zu erringen. Nebenbei erfahren wir, wie die Begegnung mit den deutschen Behörden auf Geflüchtete wirkt, wie unerbittlich der Amtsschimmel sein kann, wie großzügig es aber auch zugehen kann, wenn man das Glück hat, auf einen verständnisvollen Menschen zu treffen.

Der junge Saśa ist ganz mit der Bewältigung der Gegenwart und der Zukunftsplanung beschäftigt. Erst der erwachsene Saśa beginnt sich mit seiner Herkunft auseinanderzusetzen: Welches waren prägende Kindheitsereignisse, welche Rolle spielte die Familie, die Großmutter? Zwei Reisen nach Viśegrad lassen ihn auf Spurensuche nach der Vergangenheit gehen. Die Großmutter ist es, die ihn in das alte Dorf führt, wo der Ursprung der Familie liegt. Er aber spürt, dass ihm dieser jetzt fast verlassene Ort nichts mehr sagt, wohl aber der Großmutter.

Anlass für die zweite Reise ist der Gesundheitszustand der Großmutter, die inzwischen dement ist. Gerade auf dieser Reise erkennt er in den Erinnerungsfetzen der Großmutter die Vielschichtigkeit der Erinnerung. Die Großmutter hat die Orientierung in Raum und Zeit verloren und erkennt oft die nächsten Familienmitglieder nicht mehr. Für Saśa selbst werden die eigenen Erinnerungen zu Erzählungen, deren Wahrheitsgehalt er nicht mehr trauen kann, zumal die anderen, etwa sein Vater, ganz andere Erzählungen der Ereignisse haben.

Das ist eines der sich durch den Roman ziehenden Themen: Wie erinnern wir uns, wie kommt es zu verschiedenen Erzählungen, kann man einer Geschichte überhaupt trauen? Hier nun ist er bei einer der zentralen Fragen der Literatur, gerade der autobiographisch geprägten: Wie ist das Verhältnis von „Wahrheit und Lüge“, wie das Verhältnis von „Fiktion und Wirklichkeit“? So lässt er immer wieder offen, ob nicht Situationen und Ereignisse auch ganz anders gewesen sein könnten, ob er sie auch ganz anders hätte erzählen können. Auf diese Weise überschreitet der Roman die rein autobiographische Ebene, indem er alle Erinnerung als mögliche Fiktion erscheinen lässt.

Stanišićs Roman ist von so großer Intensität, weil der Leser immer wieder die eigene Erfahrung des Autors spürt, etwa wenn die Familie bei ihrem Heimatbesuch 2018 afghanischen Flüchtlingen begegnet, die in ihrer Angst vor Entdeckung ebenso panisch reagieren wie seinerzeit Saśa und seine Mutter.

Für den Erzähler bleibt der innere Zweispalt, einerseits näher an die eigene Herkunftsgeschichte herankommen zu wollen, die aber durch die Demenz der Großmutter weitgehend verloren ist, andererseits aber zu wissen, dass er sich von eben dieser Geschichte weit entfernt hat. So weit, dass er seine Romane in der neuen Sprache, eben auf Deutsch, schreibt und dass eine Rückkehr nicht in Frage kommt. Deutschland ist seine Gegenwart und Zukunft, auch die seines Sohnes.

Den Eltern ist das nicht gelungen, sie leben inzwischen in Kroatien.

Der Roman schließt mit einem Epilog, in dem Stanišić mit dem Leser zusammen verschiedene Varianten einer Erzählung entwickelt. Nach dem letzten Besuch im Altenheim bei der dementen Großmutter nimmt er nicht den Flieger, sondern kehrt zurück an ihr Bett. Der Leser erhält nun unterschiedliche Möglichkeiten, wie es weitergehen könnte. Der Leser entscheidet selbst, welchen Weg er gehen will.

Damit etabliert Stanišić den Leser als aktiven Mitarbeiter im Entstehungsprozess des Romans. Denn was wäre der Roman ohne den Leser, ohne den Interpreten, ohne die vielfältigen Möglichkeiten des Verstehensprozesses? Versteht vielleicht der Schriftsteller seinen eigenen Text erst durch die Brille seiner Leser?

Gleichzeitig hat der Epilog jedoch auch eine inhaltliche Funktion. Der Erzähler konfrontiert den Leser mit der Frage nach dem Umgang mit Demenz. Was gilt mehr: die von der dementen Großmutter imaginierte Welt oder die Welt der sie umgebenden nicht-dementen Figuren? Dürfen bzw. müssen wir versuchen, den dementen Menschen aus seiner Vorstellungswelt herauszureißen und ihn mit unserer Wahrheit zu konfrontieren? Oder müssen wir Nicht-Dementen uns auf die imaginierte Wahrheit des Kranken einlassen, als wäre es ein Spiel? Und auch hier wieder die Frage: Wer kann für sich überhaupt die Wahrheit beanspruchen?

Stanišić hat keine Antwort auf diese Fragen, er sieht nur mögliche Handlungsalternativen. Die bietet er seinen Lesern an, wie um in einen Dialog mit ihnen einzutreten.

Stanišićs Roman besticht durch die Dichte des Textes. Er mutet mir als Leserin zu, Zeit- und Ortsprünge in seinem Erinnerungsprozess nachzuvollziehen. Ich muss mir aus dicht erzählten Episoden, sei es aus der Jugendgruppe in Heidelberg, sei es vom Familientreffen in Viśegrad, ein Bild davon machen, inwiefern ein Ereignis für die sozialen Bezüge, für die Empfindungen, Freuden und Ängste der beteiligten Figuren steht. Das ist eine Herausforderung, der ich mich als Leserin gerne gestellt habe.

Insgesamt ist  „Herkunft“ ein sehr lesenswerter und herausfordernder Roman.

Das Buch ist im Luchterhand Verlag erschienen, hat 350 Seiten und kostet 22 Euro.

Elke Trost   

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