Als „Fantasien“ übertitelte Klavierstücke erlauben sich die Freiheit von der strengen Sonatenform mit Thema, Seitenthema, Durchführung, Reprise und der obligatorischen Satzfolge „schnell – langsam – schnell“, auch wenn sie sich oft an diese anlehnen. Das ist vor allem bei Franz Schuberts „Wanderer-Fantasie“ in C-Dur der Fall, die geradezu ein Vexierspiel des Komponisten mit den Elementen der Sonatenform ist. Die vier Sätze lassen sich einerseits als Elemente der Sonatenform interpretieren, andererseits als Elemente des Sonaten-Hauptsatzes, also des ersten Satzes einer Sonate. Gerade die Freiheit, die sich Schubert bei der Gestaltung dieses Werkes genommen hat, führt zu einer ganz eigenen Struktur, die durchaus nicht nur dem momentanen Einfall geopfert wird.
Auf der anderen Seite kann ein als „Sonate“ gekennzeichnetes Klavierwerk durchaus „Fantasie“-Charakter aufweisen, wenn es den üblichen Sonatenrahmen nicht nur beliebig dehnt, sondern geradezu sprengt. Das ist in Franz Liszts Sonate in h-Moll der Fall. Statt der geläufigen Viersätzigkeit prägt hier eine Folge von vierzehn(!) musikalischen Elementen – man mag nicht das Wort „Sätze“ verwenden – die Struktur. Nicht zuletzt die scheinbar beliebige Abfolge von „Recitativo“, „Quasi Adagio“ und „Prestissimo“, um nur einige Tempobezeichnungen zu nennen, drängt geradezu die Assoziation an eine „Fantasie“ auf, ganz zu schweigen von der Klammer der mit „Lento assai“ ausgewiesenen Eck-„Sätze“.
Diese Vorbemerkung zeigt deutlich, unter welches Motto Kit Armstrong sein Konzertprogramm im Rahmen des Rheingau Musik Festivals am 30. August im Schloss Johannisberg gestellt hatte: „die Fantasie als Sonate als Fantasie“. Diese beiden Werke rahmte er durch fantasieartige kurze Klavierstücke von William Byrd und Franz Liszt ein.
Willliam Byrd war ein englischer Musiker der Spätrenaissance, der seinen katholischen Glauben in der elisabethanischen Ära gegen alle Widerstände auch musikalisch feierte. Von ihm spielte Armstrong die beiden Stücke „A Fancie, for my Ladye Nevell“ und „Have with you to Walsingame“, deren erstes explizit als Fantasie („Fancie“) ausgewiesen ist. Kit Armstrong arbeitete dabei vor allem die frei fließende musikalische Fantasie, aber auch die sich miteinander verschränkenden Stimmen beider Hände heraus. Das zweite Stück beginnt geradezu minimalistisch, wobei Armstrong die Töne einsam in die Tasten fallen ließ. Deutlich modellierte er auch die Stimme der linken Hand und stellte mit viel Gespür die unterschiedlichen Stimmungen von introvertiert über lebhaft bis stürmisch heraus.
Fast übergangslos wechselte Armstrong dann zu Schuberts Wanderer-Fantasie, als betrachte er Byrds Stücke als „Intro“. Dabei verzichtete er bewusst auf den oft üblichen breiten, auftrumpfenden Gestus der ersten Takte mit ihren weiten Griffen und begann eher unspektakulär, fast ein wenig nachdenklich. Den gesamten ersten Satz nahm er zwar in hohem Tempo, aber stets mit lockerer Hand und immer wieder mit leicht gebrochenem Gestus. Schuberts Wanderer-Motiv, das in der „Winterreise“ überdeutlich zum Ausdruck kommt, steht bei Armstrong nicht für den „lustigen Wandersmann“, sondern für den unruhig Umherirrenden, der rastlos von Enttäuschung zu Enttäuschung wandert. Das „Adagio“ kam mit einem ganzen Bündel tiefer Empfindungen wie Einsamkeit und Enttäuschung daher, die nur in den fein perlenden Läufe eine ferne Hoffnung zeigten. Dagegen arbeitete Armstrong im anschließenden „Presto“ vor allem die starken Kontraste leichter und aufbrausender Momente heraus. Mit dem Finalsatz kehrt dann das Anfangsthema wieder zurück, das dem gesamten Stück den bereits erwähnten Charakter des Sonatenhauptsatzes verleiht.
Kit Armstrongs Interpretation dieses Werkes bestach vor allem durch seine fokussierte und dichte Spielweise, die konsequent sowohl auf falsche Romantisierung als auch auf donnernde Akkordketten verzichtete. Hier leuchtete die Schubertsicht durch, die auch Mitsuko Uchida in ihrem Schubert-Abend vertreten hat.
Nach der Pause spielte Armstrong drei von Franz Liszt vertonte Goethe-Lieder: „Mignons Lied“, „Es war ein König von Thule“ und „Der du von dem Himmel bist“. Hier hat sich der Romantiker Liszt emotional geradezu ausgelebt, und Armstrong arbeitete diese emotionalen Momente durch starke Verzögerungen, Pausen und freie Metrik überzeugend heraus. Der „König von Thule“ entwickelte eine ahnungsvoll mahnende Aura, und der „Himmel“ schließlich strahlte die reine Entsagung aus.
Liszts Klaviersonate in h-Moll beginnt mit einem „Lento assai“, dessen einzelnen Töne wie übervolle Wasserstropfen in die Tasten fallen. Jeden einzelnen Ton formte Armstrong dabei mit viel Bedacht und musikalischem Ernst. Über die technischen Anforderungen dieses Stücks braucht man in diesem Fall nicht zu reden, denn trotz der größten Schwierigkeitsgrade meisterte Armstrong das Werk technisch wie eine der leichteren Etüden. Keinen Augenblick kam der Eindruck technischer Anstrengung auf, und der Solist konnte sich vollkommen auf die musikalische Ausgestaltung konzentrieren. Vor allem den schnellen Wechsel von Tempi, Dynamik und musikalischem Ausdruck gestaltete er im Rahmen eines Konzeptes, das einerseits die Komplexität, andererseits die musikalische und emotionale Unterschiedlichkeit der einzelnen „Sätze“ zum Ausdruck bringen sollte. In Armstrongs Interpretation wurde Liszts Sonate zu einer breit aufgefächerten Fantasie, ohne deshalb an struktureller Qualität zu verlieren. Kit Armstrong verwandelte die Sonate in eine Schwester von Schuberts „Wanderer-Fantasie“, und diese Anverwandlung tat dem Werk ausgesprochen gut.
Nach den letzten, leise verklingenden Tönen des abschließenden „Lento assai“ benötigte das Publikum einige Sekunden, um die Eindrücke zu verarbeiten, spendete dann aber begeisterten Beifall. Da dieser nicht enden wollte, spielte Armstrong als Zugaben noch zwei Klavierstücke von William Byrd, die sich natürlich perfekt in den „fantastischen“ Rahmen dieses Klavierabends einfügten.
Frank Raudszus
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