Johann Sebastian Bachs Messe in h-Moll gilt für viele Musikexperten und Laien als dessen Hauptwerk, und entsprechend neigen daher die meisten Interpretationen auch zur akustischen Ausdehnung. Große Orchester und vor allem kopf- und damit stimmstarke Chöre gelten oftmals vorab als Gütezeichen für eine machtvolle Wirkung dieser geistlichen Musik, vor allem, wenn sie in sakraler Umgebung – sprich: Kirchen – aufgeführt wird. Natürlich verfehlen große Ensembles dank ihrer akustischen Fülle ihre Wirkung nicht, doch dabei stellt sich stets die Frage, ob das denn auch zu Zeiten Bachs so gewesen ist. Weder die Instrumententechnik noch die Musikerausbildung waren soweit fortgeschritten, auch bei höchster akustischer Entfaltung hohe Präzision und saubere Intonation zu gewährleisten. Außerdem standen auch nicht die finanziellen Mittel zu einer Perfektionierung des musikalischen Ausdrucks zur Verfügung.
Die seit längerer Zeit zu beobachtenden Tendenzen einer historischen Aufführungspraxis entstanden genau aus dem Wunsch, zurück zu den Wurzeln der jeweiligen Musik zu gehen und sie mehr aus dem Geist ihrer Verfasser denn unter dem Aspekt der technischen Möglichkeiten zu interpretieren. Das englische Ensemble „Gabrieli Consorts & Players“ unter der Leitung von Paul McCreesh hat sich diese Leitsätze zu eigen gemacht, ohne sich deshalb auf das enge Terrain einer „rein authentischen“ Musik zurückzuziehen. Das Ensemble verzichtet jedoch auf den Faktor „Größe“ und hat sich eine fast kammermusikalisch zu nennenden Zuschnitt gegönnt. Der Chor besteht aus knapp zwanzig Stimmen, und auch das Orchester ist mit knapp dreißig Musikern nicht überdimensioniert zu nennen. Das führt natürlich zu einem eher kammermusikalischen Klangbild, das es erlaubt, einzelne Gesangs- oder Instrumentenstimmen stärker zur Geltung zu bringen. Stichwort „Transparenz“.
Dieses Ensemble feierte am 29. August mit Bachs Messe in h-Moll sein Debut beim Rheingau Musik Festival. Zu Beginn schlug sich das auch im Klangbild nieder, denn die Basilika des Klosters Eberbach mit ihren kahlen Steinwänden stellt jedes Ensemble erst einmal vor akustische Probleme. So mussten sich auch die britischen Musiker erst an diese schwierige Umgebung gewöhnen. Im ersten Teil, der „Missa“, wirkte der Klang denn auch über Strecken etwas verwaschen, und die akustische Trennung von Chor und Orchester gelang nicht immer. Mal verschwanden die Stimmen des im Hintergrund postierten Chores – auch wegen der begrenzten Kopfzahl – etwas hinter dem Orchester, dann war es wieder umgekehrt. Nur, wenn die vier Solisten nach vorne an die Rampe traten und ihre Arien sangen, waren klare klangliche Prioritäten zu erkennen. Charlotte Shawn (Sopran) und Martha McLorinan (Mezzosopran) beeindruckten ebenso wie die Altistin Helen Charlston durch stimmliche Präsenz, präzise Intonation und ausgeprägten musikalischen Ausdruck. Nicht zu vergessen Matthew Brook mit seinem voluminösen Bass, während der Tenor Matthew Long erst im zweiten Teil zu einer Solo-Arie ansetzen konnte.
Nach der Pause hatten sich die Musiker offensichtlich an die akustischen Bedingungen angepasst, und die Transparenz zwischen Orchester und Chor wie auch innerhalb des Orchester kam jetzt wesentlich deutlicher zum Ausdruck. Der Chor war durchweg präsenter und stimmstark, und das Orchester konnte sich dank schärferer Konturierung neben dem Chor gut behaupten. Im „Credo“ beeindruckten vor allem die tragisch absteigenden Sequenzen des Chores beim „Cruxifixus…“ (Kreuzigung) sowie der direkt anschließende kraftvolle Jubel des „Et resurrexit…“(Auferstehung). Im „Sanctus“ bestach vor allem der Chor durch seine Strahlkraft und Präzision, und im abschließenden Teil konnten neben dem Chor noch der Tenor Matthew Long mit einer sehr klaren und emotionalen Interpretation des „Benedictus“ und Helen Charlston (Alt) mit einem ausdrucksstarken „Agnus Dei“ überzeugen. Der Chor setzte dann mit einem friedvoll-glaubensstarken „Dona nobis pacem“ einen letzten gesanglichen Höhepunkt.
Nicht die stimmliche Mächtigkeit eines vielköpfigen Chores und die instrumentale Kraft eines stark besetzten Orchesters spielten bei dieser Aufführung der Messe eine Rolle, sondern die Gestaltung der einzelnen Stimmen, sowohl im gesanglichen wie im instrumentalen Bereich. Dadurch gewann dieses Werk streckenweise einen fast intimen Charakter, und der ursprüngliche spirituelle Zweck einer solchen Messe kam wesentlich deutlicher zum Ausdruck als in einer stimmgewaltigen Version. Außerdem vermittelte diese Interpretation eine Ahnung, wie die Messe zu Bachs Zeiten geklungen hätte, falls man sie denn ausgeführt hätte.
Das Publikum war begeistert und bedankte sich bei dem Ensemble und den Solisten mit lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
No comments yet.