Man sollte vor Beginn der Aufführung von „Wir werden mutig gewesen sein“ im Staatstheater Darmstadt kurz in das Programmheft schauen, denn dort wird auf Texte verschiedener Geistesgrößen des 20. und 21. Jahrhunderts verwiesen, die in diesem „Theaterprojekt“ zu Gehör kommen: Adorno, Harari, Precht, Thoreau und Hathaway feiern hier ein mehr oder minder fröhliches Stelldichein, das sich als persönliches Treffen – auch im Falle einer Kontemporalität – wohl kaum ergeben hätte. Da man bei Zitaten dieser Autoren nicht von wenigen markigen Sätzen ausgehen sollte, wird schnell klar, dass es sich hier um ein Theaterprojekt handelt, das statt einer klassischen, in sich konsistenten Handlung längere Texte in theatralischer Form präsentiert.
Es beginnt fast komisch, wobei die Komik über die Dauer des fast zweistündigen Stückes eher Seltenheitswert besitzt oder mit bitterer Ironie und Sarkasmus hinterlegt ist. Zwei biedere Damen (Karin Klein und Jessica Higgins) im Varieté-Outfit singen ihr Begrüßungslied etwas verwirrt drei Mal vor dem geschlossenen Vorhang, bis dieser sich endlich gnädig öffnet. Auf der Bühne sieht man eine eher trostlose Collage unverbundener Gegenstände wie eine Telefonzelle, ein Trampolin und die Ausrüstung einer Band. Die Darsteller stehen scheinbar desinteressiert in dieser Requisitensammlung.
Nach einigen Augenblicken der Sprachlosigkeit wagt sich ein älterer Herr (Hubert Schlemmer) im typischen Senioren-Look – helle, zu weite Hose, Strickweste – an die Rampe und lässt seinem Frust über die ihn bedrängende Endlichkeit des Lebens in einer Wutrede freien Lauf. Dann verlässt er schnellen Schrittes die Bühne, nicht ohne vorher einige böse Prophezeiungen über den weiteren Verlauf der Aufführung ins Publikum zu schleudern und seine Beteiligung daran zu verweigern. Versteht sich, dass Schlemmer bald in anderer Kostümierung erneut erscheint. Das wäre einmal etwas anderes, dass ein Schauspieler in der ersten Szene das weitere Spiel verweigert!
Damit sind die Zeichen für dieses „Theaterprojekt“ gesetzt, denn hier verwendet das Theater bewusst nicht den Begriff „Inszenierung“, sondern den viel allgemeineren „Projekt“-Begriff, der alles beinhalten kann. So verzichtet die Autorin und Regisseurin Sandra Schulz völlig auf eine stringente Handlung mit Personenbezeichnungen und -charakteren und beschränkt sich auf die Präsentation der erwähnten Texte, vermischt mit eigenen szenischen Skizzen.
Da wird die „Veränderung“ besungen und schließlich sogar in Gestalt einer modernen Göttin, die wie im Varieté der goldenen Pflanze der Technologie entsteigt, glorifiziert. Allerdings trägt diese Verherrlichung bitter-ironische Züge, denn das Selbstlob der Veränderungsgöttin strotzt geradezu vor bieder-schlichten Werbesprüchen. Und der finale Kollaps dieser Selbsverherrlichung kommt, wenn die anderen Darsteller die nervende Selbstbeweihräucherungsanlage durch den rückwärtigen Vorhang abschieben: die Darstellerin plappert bei weiter laufendem Mikrophon allerlei Blödsinn und entlarvt dadurch die Doppelbödigkeit und Hohlheit der eigenen Ergüsse. Allerdings vermasselt sie dem Linken (Béla Milan Uhrlau ), der gerade an der Rampe nackt gegen den Kapitalismus protestieren will, durch ihr lautes Geplapper zum zweiten Mal seinen Auftritt.
In diesem Stil geht es weiter, wobei ein Schlagabtausch zwischen Optimisten à la Harari und Apokalyptikern (Adorno et al.) zu verzeichnen ist. Da führen Daniel Scholz und Béla Milan Uhrlau einen herrlichen Bossa-Rap über moderne Erziehungsparadigmen vor, der eben diesem ernsten Text einen konträren Witz einflößt, oder Hubert Schlemmer singt ein kunstvolles Lied über den Gelben Sack nach bekannten Melodien.
Marielle Layher gesteht dem Publikum in einer feministischen Suada mit zunehmender Lautstärke, für welche leidenden und unterdrückten Lebewesen – neben Frauen auch andere mit ähnlichen Problemen – sie bereit wäre zu töten, und verzichtet in ihrer emotionalen Erregung zunehmend auf eben die Contenance, die sie anfangs auszeichnet. Am Schluss schreit sie ihre Anklage gegen die Welt bis zur völligen Erschöpfung ins Mikrophon.
Ein anderer Vortrag gilt dem Entstehen einer neuen Kunst, die alles sein soll – widerständig, provokant, aufrüttelnd -, nur nicht verständlich, und dann rezitiert der Chor der Darsteller auf der rückwärtigen Drehbühne – stetig nach rechts rückend – im Futur II die Geschichte des menschlichen Lebens. Dabei ist sie jedoch mit der periodisch wiederkehrenden Telefonzelle konfrontiert, ein Symbol für die wiederkehrende Realität, die den Intellektuellen oftmals aus dem Konzept bringt.
Dazu steigt am rechten Bühnenrand von Zeit zu Zeit eine pinkfarbene Hüpfburg in Gestalt eines Drachen auf, um dann wieder in sich zusammenzufallen. Symbol wofür ? Der Monolog über zukünftige Mischwesen aus Mensch und Tier oder Pflanze stammt offensichtlich von Donna J. Hathaway und bietet einen (bio)technologisch-ethischen Ausblick auf die Zukunft, wobei die Implikationen dieses Zwitterwesens ausschließlich positiv gewertet werden. Alternative Entwürfe zum Gegebenen dürfen nie kritisch hinterfragt werden!
Jessica Higgins dagegen spielt in ihrem großen Schlussauftritt im Ballettkostüm die liebe Naive, die mit dem Publikum ins Gespräch kommen möchte, gesteht, dass sie eigentlich gar nicht tanzen kann und dass die Fußnägel fürchterlich schmerzen. Und während dieses Smalltalks verpasst sie dem Publikum alle die kleinen Seitenhiebe, die verhindern, dass hier eine Wohlfühlatmosphäre ensteht frei nach dem Motto: „Geh´ins Theater, mach Dir ein paar schöne Stunden“.
Diese Performance wird gegen Ende trotz vieler origineller und auch witziger Einfälle ein wenig textlastig. Die Regie versucht zwar, diesem Effekt durch intelligente und abwechslungsreiche Musik entgegenzuwirken, doch das Problem besteht darin, dass der Schwerpunkt in eben diesen Texten liegt. Einzeln ließen sie sich leicht mit dramatischer Wirkung einbauen, im „Multipack“ jedoch nehmen sie sich gegenseitig den Wind aus den Segeln. Darüber hinaus führt die Heterogenität der Themen und der ethisch-politischen Bewertung zu einer gewissen Beliebigkeit. Die Mischung aus karikiertem Optimismus, pathetischer Anklage und beißender Polemik wirkt ein wenig wie ein Potpourri nach dem Motto „Für jeden etwas“. Zwar zerfällt dieses Projekt nicht zu einer bedeutungslosen Komikfolge verschiedener Themen, sondern bleibt auf dem schmalen Grat zwischen dieser Gefahr und schwerer Endzeitklage, doch die Breite der Themen und Darstellungsweisen verhindert die Betroffenheit, die eine stringente, auf wenige, zusammengehörige Kernthemen reduzierte Dramaturgie hätte erreichen können.
Die Darsteller leisten dabei jedoch Überdurchschnittliches, sei es Erwin Aljukic, der trotz seiner körperlichen Probleme selbst Klettertouren bewältigt, sei es Daniel Scholz, der nahezu zwei Stunden lang einen tropfenden Eisblock in seinen Händen hin und her rollt. Und das sind nur die physischen Leistungen. Darstellerisch bieten sie ebenfalls eine breite Palette von Rollen, die sie alle souverän ausfüllen.
Frank Raudszus
Alle Fotos Copyrights © Maurice Korbel
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