Der französische Philosoph Michel Serres, Jahrgang 1930, hat die ernüchternde Feststellung getroffen, dass sich in Frankreich mit der zunehmenden Lebenserwartung eine stetig wachsende Gruppe von „Meckergreisen“ gebildet hat, die die Gegenwart ablehnen und von den guten, alten Zeiten reden. Als galanter Franzose beschränkt Serres seinen auf dieses Phänomen folgenden Zornesausbruch auf die männliche Hälfte der Spezies Homo Sapiens und enthält sich bei der anderen Hälfte jeglicher expliziter Zuschreibung.
Der Untertitel des Buchs lautet „Ein optimistischer Wutausbruch“, doch den sollte man in „Zornausbruch“ ändern, denn laut philosophischer Terminologie – Sloterdijk et al. – kennzeichnet die Wut die Reaktion auf unbestimmte Ängste und entstammt dem Ressentiment, während der Zorn sich gegen ganz konkrete Verhältnisse richtet.
Als Franzose geht Serres seine Philippika gegen die „Meckergreise“ mit viel – man möchte fast sagen: heiterer – Ironie an. Er beginnt er mit den Massentötungen des 20. Jahrhunderts, wobei er angesichts von Namen wie Hitler, Stalin, Mao und Pol Pot auf Heiterkeit verzichtet. Wenn er jedoch in die allgemeinen Lebensbereiche übergeht, kann er den gezielten Witz nicht unterdrücken. Ob es die industrielle oder die landwirtschaftliche Arbeit ist, oder die Hausarbeit von chronisch überlasteten Müttern: nachdem er diese Tätigkeiten in ihrer Ausformung der der vierziger und fünfziger Jahren plastisch-drastisch beschrieben hat, kommt der bisweilen nicht darum herum, diese Zeiten „paradiesisch“ zu nennen, und zwar ohne die Anführungszeichen, denn die Tatsachen belegen die bittere Ironie zu Genüge.
So geht er von einem Lebensbereich zu nächsten, wobei er sich nicht explizit auf Vorwürfe der „Meckergreise“ gegenüber der heutigen Welt bezieht, da diese in den meisten Fällen sowieso pauschal ausfallen. Wir kennen das in Deutschland von dem noch in den sechziger Jahren üblichen Spruch: „Das hätte es unter Adolf nicht gegeben“.
In diesen „guten, alten Zeiten“ blühte der Rassismus noch ganz offen und unbefangen, was vielleicht einige dieser älteren Herrschaften sich wieder wünschen würden. Die Hygiene zu Hause und in den Krankenhäusern war noch weitgehend eine Katastrophe, und das Kindbettfieber sowie die Säuglingssterblichkeit sanken erst nach dem Ersten Weltkrieg drastisch. Für Sterbebegleitung war jeder selbst verantwortlich.
Viele der Beispiele stammen aus Serres´ eigener Jugend, erlebte er doch die späten 30er und die 40er Jahre in einem kleinen Dorf bei Bordeaux. Werkzeuge waren von Ochsen gezogene und von Menschenhand geführte Pflüge, und das Einsammeln von Kartoffeln und Rüben ließ viele Bauern früh an Rückenleiden erkranken. Hausheizung war auf das Küchenfeuer begrenzt und die sanitären Einrichtungen – nicht diskussionswürdig. Und diese Zustände belegt Serres ironisch mit „guter, alter Zeit“.
So geht es weiter durch alle Alltagsbereiche. Dabei stellt man als Leser fest, dass sich Serres bei der Beschreibung vor allem der landwirtschaftlichen Arbeiten geradezu in einen Rausch hineinschreibt, als erinnere er sich gern dieser „alten“ Zeiten. Hier kommt die unfreiwillige Paradoxie zum Tragen, das die Erinnerung selbst die härtesten Bedingungen der Jugend verklärt. Serres merkt das selbst und geht deshalb beim nächsten Fall um so deutlicher vor.
In einem einzigen Fall kann er dem Meckern etwas abgewinnen: bei der Kommunikation. Früher plauderte man im Zug oder in der Metro miteinander, heute starrt jeder auf sein Handy, um sich Beiträge wildfremder Menschen anzusehen. Dabei wird Serres jedoch nicht zum „Meckergreis“ der modernen Kommunikation, sondern erkennt durchaus deren großen Vorteile.
Dieses Buch stellt keine hohen philosophischen oder sonstige intellektuellen Ansprüche. Seine Themen präsentiert er mit hoher „Clarté“ und Direktheit, und der Leser benötigt dabei keine weiteren Fußnoten. Er verzichtet auch auf eine eingehende Analyse der Gründe für dieses Dauermeckern, sondern beschränkt sich bewusst auf Schilderung und Bloßstellung des Ressentiments. Das Problem wird sein, dass gerade diese Zielgruppe das Buch nicht lesen wird.
Übrigens: Serres hat dieses Buch strikt auf Frankreich bezogen, es ließe sich jedoch leicht auf die meisten europäischen Länder übertragen.
Das Buch ist in der „edition Suhrkamp“ erschienen, umfasst 76 Seiten und kostet 12 Euro.
Frank Raudszus
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