Das Regietheater sieht sich oft mit dem Vorwurf konfrontiert, auf Werktreue nicht viel zu geben und die Bühnen-Klassiker nur als „Steinbruch“ für eigen(willig)e Neuinszenierungen zu nutzen. Ein wenig trifft dies auch auf Ewald Palmetshofers Version von Gerhart Hauptmanns Drama „Vor Sonnenaufgang“ zu, das im „Schauspiel Frankfurt“ jetzt Premiere feierte. Zwar entgeht Regisseur Roger Vontobel dem Vorwurf des Regietheaters dadurch, dass Palmetshofers Stück nur unter dem einschränkenden Titel „nach Gerhart Hauptmann“ firmiert, doch es bleibt die Tatsache, dass die Vorlage einschließlich der Personen weitgehend kopiert wird.
Nun muss eine eigenständige Adaption eines bekannten Bühnenstückes nicht nachteilig sein, etwa, wenn sie bestimmte Aspekte des Originals aus Aktualitätsgründen textlich und dramaturgisch bis hin zu Änderungen hervorhebt. Wenn dabei die Logik der Handlung leidet, kommt es auf die Gewichtung der Absichten und – natürlich – auf das Gelingen an. Palmetshofers Version enthält beide Komponenten, doch Vontobel gelingt es, Hauptmanns Stück durch eine ausgesprochen dichte und in sich schlüssige Inszenierung eine neue, aktuelle Bedeutung zuzuschreiben.
In dem 1889 entstandenen Original besucht der Sozialaktivist Loth seinen Studienfreund Hoffmann, um die desolaten sozialen Verhältnisse der Bergarbeiter, für die auch Hoffmann verantwortlich ist, zu untersuchen und anzuprangern. Es geht also um konkrete Missstände und Verantwortliche, und eine Konfrontation zwischen den beiden Freunden ist unvermeidlich. Palmetshofer verlegt das Stück aus nahe liegenden Gründen in die heutige Zeit, in der er mit flächendeckenden skandalösen sozialen Verhältnissen im deutschen Sozialstaat kaum aufwarten kann. Dadurch wird der Disput zwischen den beiden Kontrahenten eher zur grundsätzlichen weltanschaulichen Auseinandersetzung ohne die Brisanz einer konkreten Situation. Das dramaturgische Problem dabei ist der Anlass zur Diskussion, der sich in der Inszenierung nur zäh entwickelt. Hoffmann muss seinem Freund aus Studientagen solange ein – nicht ganz nachvollziehbares – Misstrauen entgegenbringen, bis dieser sozusagen „ausrastet“ und Tacheles redet. Dabei geht es jedoch nicht um konkrete Verstöße gegen soziale Regeln oder gar die Menschenwürde, sondern eher um das Auseinanderleben der beiden, das Loth gleich auf die gesamte Gesellschaft projiziert. Mit der Polarisierung der Gesellschaft trifft Loth alias Palmetshofer natürlich den Kern aktueller gesellschaftlicher Probleme, nur kann er diese nicht Hoffmann als Person zur Last legen. Was er ihm vorwerfen kann, ist seine (kapitalistische) Arbeitgebermentalität und die Abkehr von studentischen Utopien.
In diesem Sinne verläuft die zentrale Auseinandersetzung zwischen den beiden, wobei Loth den Menschen so sieht, wie er sein könnte, und Hoffman so, wie er ist. Hoffmann zeigt deutliche Anzeichen eines gesellschaftlichen Zynismus, geht jedoch durchaus auf Loths Argumente ein. Auch wenn er sich von dessen utopistischer Weltsicht nicht überzeugen lässt, ist das eigentlich kein Grund für ein echtes Zerwürfnis. Soviel zu den logischen Problemen dieser Inszenierung.
Letztere wiederholen sich in gewisser Weise bei den Frauenfiguren. Egon Krauses zweite Frau Annemarie ist bei Gerhart Hauptmann eine ungebildete Frau, bei Palmetshofer und Vontobel ist sie eine zwar pragmatische aber nicht unsympathische Frau, die sich in Krauses Kreisen durchaus bewegen kann. Dieser ist bei Palmetshofer vom Großbauern zum Karosseriebau-Unternehmer avanciert, trinkt aber ebensoviel wie Hauptmanns Krause. Bei Hauptmann ist das Trinken – vor allem der Bauern und Arbeiter – ein anklagenswertes Merkmal der sozialen Schicht, das auf mangelnde Bildung und Perpektiven zurückzuführen ist; bei Palmetshofers Unternehmer Krause wird es nicht als gesellschaftliches Phänomen thematisiert sondern individualisiert.
Krauses Töchter aus erster Ehe sind bei Hauptmann eher Nebenfiguren mit passiv leidendem Profil. Die „Krankheit“ der hochschwangeren Martha, der Alkohol, ist dort auf den Verlust eines Kindes zurückzuführen, Palmetshofer münzt diese Depression jedoch in nicht näher erklärte „schlechte Laune“ um, die sich in Unhöflichkeiten und Kränkungen ausdrückt. Mit einigem guten Willen kann man dieses launische Wesen auf die mangelnde Zuwendung seitens ihres Ehemanns Hoffmann zurückführen, der bei einem plumpen Annäherungsversuch an Helene auch zu verstehen gibt, dass er lieber sie geheiratet hätte.
Eine besondere Stärke von Palmetshofers Version ist die Sprache. Der Autor hat sie in den Dialogen weitgehend an die heutige Umgangssprache angeglichen. Dadurch gewinnt das Stück an Unmittelbarkeit und Alltagsnähe. Nur in den zentralen Monologen Loths und Hoffmanns, aber auch Helenes oder Krauses, bleibt Palmetshofer Hauptmanns Sprachduktus treu und lässt dessen urwüchsiger Kraft freien Lauf. Die für unsere Ohren antiquierte Sprache gewinnt im Gegensatz zur abgeschliffenen heutigen Umgangssprache besondere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Die Fähigkeit der Schauspieler, der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts trotz ihrer Schnörkel und altbackenen Wendungen unmittelbare emotionale Authentizität ohne den geringsten Hauch von Lächerlichkeit zu verleihen, macht diese Szenen zu Höhepunkten der Inszenierung.
Palmetshofer gruppiert das gesamte Stück mehr oder minder um diese zentralen „Semi-Monologe“ der Protagonisten herum, in denen ihre individuelle und gesellschaftliche Befindlichkeit zum Ausdruck kommen. Loth (Stefan Graf) ist der soziale Utopist, der sich mit den existierenden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht abfinden kann und an den Sieg des Sozialismus glaubt, während Hoffmann (Andreas Vögler) längst alle studentischen „Flausen“ abgelegt hat und zu einem – aus seiner Sicht – realistischen Pragmatismus gefunden hat, den man jedoch auch Zynismus nennen kann. Der alte Krause (Michael Schütz) trauert immer noch seiner ersten Frau nach, fühlt sich von ihrer Nachfolgerin auf Schritt und Tritt überwacht und gegängelt und findet nur in den Saufgelagen mit jüngeren Männern sein Selbstbewusstsein wieder. Die Frauen haben weniger Gelegenheiten zum Monolog und müssen ihr Lebensleid in der Verteidigung gegen die Männer förmlich herauspressen. Hauptmann traute ihnen keine führende, aktive Rolle zu, und Palmetshofer verzichtet darauf, der Gleichberechtigung zuliebe die Werktreue zu verraten. So bleiben sie passive Opfer der Männer, wenn auch auf hohem darstellerischen Niveau. Die bitter Ironie will es, dass selbst Loth in seiner hochfahrenden Menschlichkeit Helene wegen vermeintlicher Erblichkeit des Alkoholismus fallen lässt wie eine heiße Kartoffel.
Das Bühnenbild von Claudia Rohner unterstützt den Tenor dieser Inszenierung durch eine denkbar einfache und doch symbolträchtige Struktur. Eine bühnenbreite, nach oben enger werdende Treppe mit offenen Holzstufen wird von zwei kalten Metallwänden eingefasst, die für die unwandelbare Kälte der Gesellschaft stehen. Das Private spielt sich in größter Enge auf der obersten Ebene ab, und dort steht zentral eine randvoll gefüllte Hausbar. Auf der Treppe spielt sich die Handlung unter Ausnutzung der gesamten Breite ab. Die Personenregie lässt die Dialoge zwischen den Beteiligten in größtmöglicher Distanz ablaufen, damit das „Auseinanderdriften“ der Menschen veranschaulichend.
Neben den Auseinandersetzungen der beiden Studienfreunde ist hier auch die Liebesszene zwischen Loth und Helene zu nennen, die als einzige mit emotionaler Kraft kurzfristig diese große Distanz überwinden. Auch die Szenen zwischen Krause und seiner Frau nutzen die Breite der Treppe, um die Distanz der beiden zu betonen. Und Martha nähert sich Hoffmann bis auf wenige Momente nicht weiter als wenige Stufen, den privaten Bereich kaum verlassend, während Hoffmann geradezu ignorant auf seinem „öffentlichen“ Platz weiter unten verharrt. Schwangere Frauen gehören ins Haus oder gar ins Schlafzimmer! Und wenn Martha dann in den Wehen liegt, laufen diese Szenen unter der Treppe ab, abseits des öffentlichen Bereichs, in dem Frauen – vor allem in einem solchen Zustand – nichts zu suchen haben.
Die Darsteller zeigen durchweg überdurchschnittliche Leistungen. Andreas Vögler, den wir aus früheren Jahren vom Staatstheater Darmstadt kennen, ist ein in seiner Selbstgerechtigkeit und Sturheit bis zur letzten Minute außerordentlich präsenter Hoffmann, der vor allem in der Szene mit Helene auch einmal ausrasten kann. Stefan Graf als Loth ist in seinem fast schüchternen, erst langsam sich zum uneingeschränkten Bekenntnis steigernden Idealismus ein ideales Pendant, und zusammen bilden sie ein Rollenpaar mit einer sich stetig steigernden Spannung. Michael Schütz spielt den alten Krause mit vielleicht ein wenig zu viel Nonchalance und Gutmütigkeit, so dass man ihn streckenweise eher als Bonvivant denn als heruntergekommenen Säufer sieht. Katharina Linder gibt seine Frau Annemarie nicht als tumbe Hausfrau sondern als lebenskluge und stets beherrschte Frau. Man erkennt auch hier den Versuch der Regie, Hauptmanns Frauenbild aufzuwerten.
Das kommt auch der Inszenierung zugute, weil hier ein Gegengewicht gegen die Männerwelt aufgebaut wird. Katharina Bach verleiht der Helene eine breite Palette von Eigenschaften und hebt sie aus der Nebenrolle, die sie in der Handlung besetzt, in eine tragende Rolle. Denn sie vertritt in dieser Inszenierung die Emotionen, die sowohl Hoffmann (per definitionem) als auch Loth (per politischer Sichtverengung) letztlich verraten. Patrycia Ziolkowska muss als Martha längere Zeit mit kurzen Auftritten vorlieb nehmen und kommt erst spät als große Leidende wirklich ins Spiel. Doch auch sie fügt sich in diese Inszenierung nahtlos ein. Nils Kreutinger gibt den Dr. Schimmelpfennig als neutrale Distanz, der jedoch durch seine kühlen Ratschläge an Loth letztlich zur Beendigung einer Beziehung führt und damit ebenfalls Schuld auf sich lädt.
Ein besonderer dramaturgischer Einfall ist die musikalische Begleitung durch Matthias Herrmann (Kontrabass) und Julie Grutzka (Gesang). Ihre Musik wandelt mit schlafwandlerischer Sicherheit auf dem schmalen Grat zwischen elegischer Sentimentalität und reiner Untermalung und verstärkt durch ihren intensiven, spannungsgeladenen Duktus den endzeitlichen Charakter des Stücks. Dabei tritt die Sängerin nicht nur als transparente Stimme auf, sondern agiert als Person auch auf der Bühne bis hin zu sporadischen Kontakten zu einzelnen Personen. Nicht zuletzt ihre schwarze Kleidung und die stille Allgegenwärtigkeit lässt sie zur Reinkarnation der tragischen „Krankheit“ werden, die wie ein Fluch über der Familie (und der Gesellschaft) liegt.
Das Premierenpublikum zeigte sich begeistert und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
No comments yet.