Monteverdis Oper „LÓrfeo“ entstand im Jahr 1607 sozusagen als „Gründungswerk“ dieser Gattung, eben wegen dieses Erstlingscharakters auch ohne externen Auftraggeber. Insofern nahm Monteverdi mit diesem Werk die Entwicklung des eigenständigen Künstlers des 19. Jahrhunderts vorweg. Als Themen kamen damals – auch ohne fürstlichen Auftraggeber – jedoch nur religiöse oder mythische Stoffe in Frage.
In „L´Orfeo“ überlagern sich gleich mehrere elementare menschliche Grundbedingungen: da ist einmal das „Schicksal“, dessen Macht der Mensch hilflos ausgeliefert ist, hier in Gestalt des für Euridice tödlichen Schlangenbisses. Zum anderen geht es um den Zweikampf zwischen Vernunft und Emotion, den letztere im Zweifelsfall verliert. Der Mensch kann seine Emotionen nicht beherrschen, auch wenn es noch so „vernünftig“ wäre. Dagegen steht jedoch die große Fähigkeit des Menschen, gegen die Ungerechtigkeit des Schicksals mit künstlerischen Mitteln zu protestieren. Dabei übt der Gesang eine besondere Wirkung aus, erweicht er doch nicht nur Felsen und Steine, sondern sogar die Herzen der Unterwelt-Herrscher Plutone und Proserpina. Als viertes Deutungselement wäre die erst in der Moderne aufkommende Psychologie zu nennen, die bei Orfeo einen Narzissmus aufzuspüren meint: er habe unbewusst-bewusst zurückgeschaut, um sich als Opfer zu stilisieren und sein Leid in Kunst umsetzen zu können. Unbestritten jedoch ist eine bereits zeitgenössisch unverkennbare Deutung: Orfeo verliert zwar Euridice als physische Partnerin, kann jedoch nach seiner Heimholung durch Apoll in den Himmel die Erinnerung an ihre Schönheit in Kunst umsetzen und damit Sonne und Sterne zum Glänzen bringen.
Bis auf die narzisstische Deutung lassen sich all diese Elemente aus der Inszenierung in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt herauslesen. Regisseur Andreas Bode für die Regie und Joachim Enders für die Musik haben mit ausgeprägtem Sinn für das dramaturgische wie musikalische Detail eine tief beeindruckende Neugestaltung dieser Oper vorgelegt. Da das frühe Musiktheater im Gegensatz zur späteren Entwicklung dem Text und dessen musikalische Umsetzung sehr großes Gewicht beimaß, galt es, die gesanglichen Darbietungen eng mit dem Sinn des Wortlauts zu verbinden. Das ist bei einem italienischen Stück auf einer deutschen Bühne nicht unbedingt spontan nachvollziehbar, da man die deutsche Übersetzung vom Display abliest, doch die ausdrucksstarke sängerische Umsetzung der einzelnen Worte spürt man fast physisch. Joachim Enders hat aus dem Orchester des Staatstheaters ein spezielles Barockorchester mit einer Reihe alter Instrumente zusammengestellt. Dazu gehört neben zwei Theorben auch ein „Regal“ – ein luftbetriebenes Tasteninstrument. Harfe und Cembali ergänzen den Klangkörper, und eine eigene Bäserformation mit Trompeten und Renaissance-Posaunen tritt als gesonderte musikalische Einheit an markanten Punkten der Inszenierung auf und serviert eine Art dramaturgischer Fanfaren.
Vor dem Einlass begrüßt das erwähnte Bläserensemble das Publikum im Foyer mit einem barocken „Tusch“, und wenn die Besucher die Kammerspiele betreten, hat das Orchester bereits im Hintergrund der Bühne Platz genommen. Davor erstreckt sich ein grünes Gartenidyll mit einem – allerdings virtuellen – Teich in der Mitte. Einige Zuschauer an verteilten Plätzen tragen seltsame Kleidung, aber das bucht man unter modernem Nonkonformismus ab. Wenn dann das Licht erlischt und das Stück beginnt, entpuppen sich die seltsamen Zuschauer(innen) als Mitglieder eines Madrigalchors, der seine Kommentare zum Bühnengeschehen in stereophoner Art und Weise von der Tribüne aus singt, bevor er sich auf die Bühne begibt. Auch später werden diese Sänger(innen) sich wieder auf der Tribüne verteilen und damit einen“Rundum-Klang“ erzeugen.
Im Zentrum der Bühnenhandlung steht Orfeo (David Pichlmaier). Doch bevor die Handlung beginnt, stellt der Countertenor Robert Crowe als „La Musica“ in einem Prolog die Handlung und eine grobe Deutung vor. Die Handlung selbst beginnt mit einem doppelbödigen Reigen. Denn alle Figuren – Orfeo, Proserpina, Caronte sowie die beiden Pastore bzw. Spirito – treten als Darsteller ihrer selbst auf, treiben Späße und Albernheiten, die offensichtlich mit einer Bühne und nicht mit der Bühnenhandlung zu tun haben. Dazu passt auch der Beifall, den sie Orfeo nach einer schönen Darbietung spenden. Es bleibt offen, ob dieser Beifall dem Orfeo seitens der Figuren aus der Handlung gelten oder dem Darsteller des Orfeo seitens seiner Mitspieler. Diese Vexierspiel changiert samt frontaler Begrüßung des virtuellen und/oder realen Publikums zwischen herkömmlicher Aufführung und „Theater auf dem Theater“ -, um dann nahtlos in die eigentliche Handlung überzugehen.
Diese ist bekannt: Orfeo und Euridice wollen heiraten, doch Euridice stirbt am Schlangenbiss. Der verzweifelte Orfeo folgt ihr in die Unterwelt, betört Pluto mit seinem Gesang und darf Euridice zurückholen, jedoch ohne sie anzusehen. Er wird schwach, sie verschwindet, und er wird von Apoll in den Himmel weggelobt. In dem antiken Mythos wird Orpheus von den Bacchantinnen zerfetzt, doch das mochte Monteverdi seinem Publikum nicht zumuten.
Das Besondere an dieser Inszenierung ist nicht die Handlung, sondern deren Umsetzung in Musik. Schon das von Joachim Enders geleitete (Barock-)Orchester glänzt durch eine ausgeprägte Transparenz, die den ganz eigentümlichen frühbarocken Duktus dieser Musik hervorhebt. Dieser wechselt zwischen tänzerischen Momenten, die man sich so auch auf einem Volksfest vorstellen kann, und dramatisch-emotionalen Passagen, mit denen Monteverdi die Befindlichkeit der jeweiligen Figur – meist Orfeo – darstellt. Dabei lebt diese Musik von der jedes Mal leicht abgewandelten Grundfigur des langsam aufsteigenden oder – öfter – absteigenden, langen Ausklangs des Gesangs. Dabei wird der jeweilige Text – ein oder zwei Sätze – in einer der Satzmelodie angeglichen Melodik musikalisch geformt Der lange Ausklang wirkt oftmals wie eine Klage oder eine unerfüllbare Sehnsucht. Die Authentizität dieses Klangkörpers entführt den Zuhörer buchstäblich in die Zeit des Frühbarocks und lässt ihn für kurze Zeit eintauchen in dessen Lebensgefühl.
David Pichlmaier hat als Titelfigur an diesem Abend künstlerische Schwerarbeit zu verrichten. Er durchläuft in kurzer Zeit alle Seelenzustände: ausgelassene Heiterkeit angesichts der bevorstehenden Hochzeit, Schockstarre nach der Todesnachricht durch die Messagiera(Elisabeth Hornung), Wut über das Schicksal, Unerschrockenheit und Tapferkeit auf dem Weg in die Unterwelt, Glück über den Erfolg bei Proserpina und Pluto, Verzweiflung über sein Versagen und den neuerlichen Verlust Euridices sowie schließlich einsichtsvolle Entsagung. All diese Zustände muss David Pichlmaier sowohl textlich als auch gesanglich interpretieren, und er tut dies nicht nur überzeugend sondern geradezu brillant. Und das alles im strengen Korsett der barocken Darstellungsmöglichkeiten und nicht in bloßen Castorfschen Schreianfällen. Die Kunst besteht darin, Verzweiflung gleichzeitig tief aus dem Herzen und aus dem Zwerchfell kommen zu lassen, ohne dabei die gesungenen Worte falsch zu betonen. Das Gleiche gilt für die Wut: als Orfeo in einem Anfall wütenden Zynismus´allen (anderen) Frauen die Achtung auf- und die Ächtung ankündigt, erfolgt das in einer Art kalten Sprechgesangs, der auch auf der Schauspielbühne seine Berechtigung hätte.
Die anderen Darsteller sind jedoch keine bloßen Stichwortgeber für David Pichlmaier. Die Regie hat ihnen durchaus eigene Charaktere verliehen, den die Darsteller auch konsequent umsetzen. Mark Adler und Musa Nkuna sind zwei Pastore/Spirito mit einem bodenständigen Humor und gegenseitigen kleinen Eifersüchteleien. Cathrin Lange spielt die Ninfa als kesse Nymphe in Netzstrümpfen und -body, und bei der zentralen Szene als Proserpina mit Pluto (Christian Tschelebiew) legt sie sogar eine frivole Szene mit unübersehbaren Andeutungen hin, die man so im Barockzeitalter wahrscheinlich nicht hätte spielen dürfen.
Auch die Bühne von Geelke Gaycken und die Kostüme von Geraldine Arnold leisten ihren Beitrag für den Erfolg dieser Inszenierung. So fährt Caronte alias Charon in einem Kahn auf Rollen über den Styx, den auch Apoll (Robert Crowe) später für Orfeos Himmelfahrt nutzt, und mit seiner gruseligen Monstermaske erschreckt Pluto sogar Dirigent Joachim Enders fast zu Tode. Die Regie hat bei diesem mythischen Stoff durchaus eine gute Portion Humor bewiesen, der dem tragischen Ernst einen Schuss Ironie hinzufügt, jedoch nie zum Klamauk ausartet.
Am Ende stehen dann wieder alle Darsteller vor dem Publikum, und man weiß nicht, ob hier fiktive Darsteller vor einem ebenso fiktiven barocken Fürstenpublikum stehen oder ob man bereits applaudieren darf/soll. Doch solange die Musik im Hintergrund noch spielt, läuft auch das Stück noch…..
Schließlich erlosch das Licht, und das Premierenpublikum konnte seine Begeisterung ungehindert in Applaus umsetzen.
Frank Raudszus
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