Die Judenverfolgungen, die seit dem frühen Mittelalter vor allem von der christlichen Kirche ausgingen, haben im Laufe der Epochen den Topos des ewig wandernden (weil verfolgten) Juden geschaffen. Dieses Bild hat Ulrich Alexander Boschwitz als Grundlage seines Roman „Der Reisende“ herangezogen und auch in den Titel eingearbeitet. Boschwitz, Jahrgang 1915, gehörte ebenfalls zu der Kategorie der unfreiwillig Reisenden. Aufgrund seiner jüdischen Herkunft emigrierte er bereits 1935 und gelangte nach mehreren Zwischenstationen bei Kriegsbeginn nach England und dann nach Australien. Ausgerechnet ein deutsches U-Boot versenkte 1942 das Schiff, das ihn nach England zurückbringen sollte.
Der Roman „Der Reisende“ beschränkt sich auf knapp eine Woche nach den Pogromen des 9. November 1938. Der erfolgreiche jüdische Geschäftsmann Otto Silbermann bereitet seit längerem seine Emigration vor. Sein Geschäft, das er als Jude nicht mehr alleine betreiben darf, teilt er sich pro forma mit einem alten Kriegskameraden, den er zwar nicht für sehr fähig hält, den er aber wegen der alten Verbundenheit aus Kriegszeiten für das geringere Übel hält. Ihn schickt er am 8. November allein zu einem wichtigen Geschäftsabschluss nach Hamburg, weil er sich am nächsten Tag mit dem einzigen Interessenten für sein Berliner Haus einig werden muss. Die gebotene Summe liegt zwar weit unter dem Wert des Hauses, doch als Jude muss er quasi jedes Angebot annehmen.
Während der – ziemlich einseitigen – Verhandlung mit dem geradezu dreisten Immobilienhändler überfallen junge SA-Männer sein Haus und verprügeln den Verhandlungspartner als vermeintlichen – jüdischen! – Hausbesitzer, während Silbermann im letzten Moment durch die Hintertür verschwinden kann. Jetzt beginnt eine Irrfahrt durch Deutschland, denn Silbermann kann nicht zurück, da er damit rechnen muss, dass sowohl vor der Wohnung als auch vor seinem Büro Polizei oder gar die Gestapo wartet. Telefonate mit anderen Juden, etwa seinem Rechtsanwalt, zeigen, dass diese bereits selbst verhaftet worden sind oder von großflächigen Verhaftungen berichten. Auch in den Berliner Hotels fühlt sich Silbermann nach dem 9. November nicht mehr sicher, und in seinem „Stammhotel“ wird er sogar freundlich aber bestimmt aufgefordert, das Haus zu verlassen. Nach einer Nacht in einem kleinen Hotel bricht er auch dort seine Zelte ab, weil er sich bereits beobachtet fühlt.
Noch ist Silbermann aber nicht verzweifelt, denn er weiß seinen Geschäftspartner mit dem Geld aus der geschäftlichen Transaktion auf dem Weg nach Berlin und braucht dieses Geld als Polster, da er sich nicht mehr zur Bank trauen kann. Doch als er seinen Partner am vereinbarten Ort trifft, nutzt dieser die Situation brutal und unter Missachtung der alten Kriegskameradschaft und der diversen Wohltaten Silbermanns aus, indem er einerseits die Hälfte des Geldes für sich behält und andererseits als – wenn auch „pro forma“ – Mehrheitsgesellschafter Silbermann damit als ausgezahlt erklärt. Dieser steht mit vierzigtausend Mark, aber ohne Unterkunft und Zukunft buchstäblich auf der Straße.
Als einzige „Unterkunft“ bleibt ihm die Eisenbahn. Anfangs nutzt er sie mit einem klaren Ziel: die Westgrenze bei Aachen, um dort illegal über die Grenze zu gehen. Dann kommen ihm aber Bedenken, denn er fühlt sich diesem für ihn ungewohnten Abenteuer nicht gewachsen. Im Zug trifft er einen Reisende, die einen gehetzten Eindruck machen und sich bald als Schicksalsgenosse erweisen. Doch Silbermann mag sich ihm nicht anschließen, da er ihm keine ausreichende Professionalität beim Grenzübertritt zutraut. So reist er weiter durch Deutschland, das Geld an sich gepresst – anfangs im Koffer, dann in einer Aktentasche. Er versucht, die Grenze nach Belgien allein zu überschreiten, wird jedoch entdeckt und zurückgeschickt und reist weiter mit der Bahn. Denn hier kann er tagsüber und nachts schlafen und im Speisewagen essen. Durch permanenten Wechsel der Züge erweckt er zwar keinen Argwohn, doch hinter jedem Mitreisenden vermutet er – mal zu Recht, mal zu Unrecht – einen überwachsamen Parteigenossen oder gar einen Polizisten, der unter den Reisenden nach Flüchtenden Ausschau halten soll. Sein anfängliches Selbstbewusstsein, dass die Situation immer wieder relativieren oder gar marginalisieren will, beginnt zu bröckeln und einer verzweifelten Fahrigkeit zu weichen. Seine Ziele verschwinden oder wechseln stündlich, und er fühlt sich mehr und mehr wie in einem Tunnel ohne Ausgang. Als ihm schließlich im Schlaf die Aktentasche von Mitreisenden gestohlen wird, ist die Katastrophe perfekt, und Silbermann entschließt sich in einer Art kalter Verzweiflung zu einer geradezu heroisch-suizidal anmutenden Aktion.
Doch Boschwitz gewährt seinem Protagonisten in dem 1939 entstandenen Roman kein glückliches Ende, sondern lässt die Tage auf eine Weise offen enden, die für den Leser bzw. Zuhörer, der heute über den weiteren Leidensweg des Juden in Deutschland nach 1938 informiert ist, das Schlimmste andeutet. Boschwitz wusste nichts von Vernichtungslagern und ließ seinem Helden immerhin eine winzige Portion Hoffnung, wir können uns jedoch das weitere Schicksal des Otto Silbermann nur in einer Richtung ausmalen.
Dem Sprecher Torben Kessler gelingt es, einerseits die Spannung der Handlung wie in einem guten Kriminalroman aufzubauen und zu halten, andererseits die Wandlung des selbstbewussten und weltgewandten Geschäftsmanns Silbermann zum einsamen und zuletzt verzweifelten Flüchtling atmosphärisch überzeugend zu gestalten. Der Zuhörer geht Silbermanns Leidensweg durch die Bahnhöfe und Züge der Reichsbahn Station für Station mit und erlebt seinen psychischen Untergang sozusagen als Mitreisender hautnah mit. Man fragt sich als Hörer nur, wieso dieser Roman erst knapp achtzig Jahre nach seiner Entstehung wiederentdeckt wurde.
Das Hörbuch ist im Audio-Verlag erschienen, umfasst sechs CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 7 Stunden und 25 Minuten und kostet 19,99 Euro.
Frank Raudszus
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