Wir wissen alle über die Zustände in der Welt Bescheid, führen aber auf unser westlichen Insel der Seligen unser Leben wie gewohnt weiter. Dieser gesellschaftliche Widerspruch – wenn er denn einer ist – hat schon viele Künstler aller Sparten erzürnt und sie zu entsprechenden Aktionen und Werken motiviert. In Darmstadt hat jetzt der portugiesische Choreograph Rui Horta diese Tatsache unter dem bezeichnenden Titel „Everybody Knows“ zum Gegenstand einer spartenübergreifenden Produktion gemacht, die schauspielerische, musikalische und tänzerische Darstellungsmittel aufs Engste verzahnt, um den erwünschten Effekt zu erzielen. Die Überschreitung der Spartengrenzen schafft eine dichte und unkonventionelle Atmosphäre und unterläuft die Erwartungshaltung des Publikums.
Schon der Beginn ist unkonventionell: mitten im Zuschauerraum plaudern zwei Schauspieler – Karin Klein und Sam Michelsen – wie ein altes Ehepaar beim Nachmittagskaffee über dies und das, während auf der Bühne die anderen Darsteller aufgereiht auf Stühlen sitzen. Dann hält Karin Klein eine längere Begrüßungsrede an das Publikum wie an private Gäste, die zum Abendessen kommen. Dabei lässt sie alle – gut gemeinten – Klischees einer guten Gastgeberin Revue passieren, und erst nach mehreren ungeduldigen Aufforderungen Klaus Lehmanns, nun doch endlich anzufangen, beginnt das Stück, das natürlich längst angefangen hat.
Der erste Part gilt eindeutig der „deutschen Hausfrau“, deren Diktion nicht von ungefähr an Angela Merkel erinnert, und zwar nicht erst als Karin Klein mit viel Emphase betont, vereint werde man alle Schwierigkeiten meistern. In Karin Kleins Begrüßungsrede hat Rui Horta alle Versatzstücke der üblichen Politiker-Appelle zu einem einzigen Redestrom verdichtet. Da ist von harten Zeiten, Verzicht und Zusammenhalt die Rede, und immer stärker wird das „Wir“ betont, dem – anfangs unausgesprochen – ein feindlich gesinntes „Die (Anderen)“ entgegensteht. Doch die Rede gleitet nicht in AfD-Polemik ab sondern hält bewusst die sprachliche und intellektuelle Ebene des gebildeten Bürgertums. Damit nimmt Horta dem Publikum die Möglichkeit der eigenen Abgrenzung, denn viele der Äußerungen sowie den Tonfall könnte man durchaus unterschreiben, wäre da nicht die sich langsam einschleichende Schärfe der Diktion.
Auch vor deutlichen Metaphern schreckt Horta nicht zurück. So sitzen alle Darsteller auf geneigten Stuhlsitzen und rutschen immer wieder – mehr oder weniger elegant – von ihren Sitzen hinunter auf den Boden. Ein deutliches Bild des Scheiterns, das Karin Klein dadurch behebt, dass sie unter alle Stühle Bücher legt. Nun sitzen alle fest im „Sattel“, und es zeigt sich, dass Bildung eine gute Grundlage für einen guten Sitz im Leben ist. Der metaphorische Witz ist nicht schlecht, wenn auch etwas deutlich. Doch es geht weiter, denn Nikos Konstantakis, der hier offensichtlich den Part des Migranten spielt, weigert sich, seinen Stuhl auf Bücher zu stellen, und so stopft Karin Klein dem Widerstrebenden nacheinander die Seiten aus den Klassikern der Weltliteratur in den offenen Mund, um ihn durch (Zwangs)Bildung zu integrieren und ruhig zu stellen.
Nach diesem Ausflug in die Welt der Bildung geht es schnurstracks zum Konsum, der sehr schnell zu einer sexuellen Orgie aller Schattierungen ausartet. Die Botschaft ist auch hier wieder eindeutig und verzichtet auf jegliche Subtilität, wenn etwa Ichiro Sugae einen – allerdings akrobatisch beeindruckenden – Masturbationstanz hinlegt. Die Schwäche dieser Szene liegt jedoch nicht in ihrer sexuellen Eindeutigkeit sondern in ihrer zeitlichen Ausdehnung. Spätestens nach fünf Minuten ist die Botschaft durchdekliniert und beim Publikum angekommen, doch Horta lässt diese Szene zum Horrotrip des Selbstzwecks werden, und die konvulsivischen Paarübungen ziehen sich über eine gute Viertelstunde hin.
Während der gesamten Aufführung spielen vier Streicherinnen im Hintergrund der Bühne unermüdlich Streichquartette der deutschen Klassik und Romantik und setzen damit den ästhetischen bürgerlichen Rahmen der Inszenierung. Die Beharrlichkeit dieser Musik angesichts der chaotischen Abläufe auf der Bühne soll dabei auf den westlichen Bildungsbegriff und seine Indolenz gegenüber den Zuständen auf der Welt verweisen. Nur in wenigen dramatischen Augenblicken schwingt sich diese Musik zu einer Kakophonie des Schreckens empor, um dann wieder in harmonische Streicherklänge zurückzufallen.
In seinem Panorama der bürgerlichen Befindlichkeiten lässt Horta keinen Aspekt aus. Der mit Bildung bis zum Hals vollgestopfte Nikos Konstantakis kämpft sich zur Rampe vor und entäußert sich seiner Ängste und Depressionen, die Ichiro Sugae als „Wolf“ in seinem Inneren tänzerisch zum Ausdruck bringt. Auch hier beeindruckt der Japaner durch seine intensive Körpersprache. Depressionen und Weltangst enden schließlich in einem Zusammenbruch des gesamten Systems, das sich im individuellen Dahinsinken aller Darsteller äußert. Doch ein seit Beginn unüberhörbares Klopfen an der Rückwand der Bühne lässt das Kind (die zehnjährige Elen Gourio), das bis dahin schon einige Auftritte als Lesende hatte, die Tür in der Rückwand öffnen. Daraufhin ergießt sich ein Strom von dunkel gekleideten, kleinen Gestalten kriechend auf die Bühne. Der Kinderchor des Staatstheaters – gekleidet in übergroße Erwachsenenkleider und mit angeschminkten Bärten – stellt in dieser Szene unzweideutig die „Flut“ der Migranten dar, die unaufhaltsam die Bühne des westlichen Lebens erobern und dabei über die wie leblos auf dem Boden liegenden Einwohner dieser schönen Welt hinweg steigen.
In der letzten Szene verlassen die kleinen Migranten die Szene wieder – auch eine Metapher? – und singen im Hinausgehen das Lied „Everybody Knows“ von Leonard Cohen, das diesem Stück den Titel gab.
Rui Horta und die Darsteller präsentieren in dieser Produktion viele eindringliche Szenen und bringen typische Verhaltensweisen auf den Punkt, ohne billig zu karikieren oder gar wohlfeil zu moralisieren. Doch bei allem Bemühen um eine Kritik an Lebensstilen und Grundhaltungen der westlichen Gesellschaften (nur die?) ist eine gewisse Beliebigkeit zu verspüren, die sich in einer zu allgemeinen Kritik zeigt, die zudem nicht unbedingt neu ist. Zwar ist das Theater nicht aufgefordert, Alternativen zu politischen Missständen aufzuzeigen, doch allein die plakative Darstellung altbekannter Verdrängungsmechanismen und politischer Bequemlichkeiten reicht als „Aufwecker“ auch nicht aus. Rui Horta verzichtet auf jegliche punktgenaue Kritik mit „Ross und Reiter“ und beschränkt sich auf eine horizontale Kritik „der Gesellschaft“. Gerade heute gibt es genügend auch personelle Aufhänger, die man durchaus hätte nutzen können, doch Horta hat sich in die anonyme Kritik zurückgezogen. Die ist zwar nicht unberechtigt, ihr fehlt aber der Zündstoff einer direkten Konfrontation mit konkreten Verhältnissen.
Einen Höhepunkt liefert zum Schluss ausgerechnet die erst zehnjährige Elen Gourio, die im Stil eines Bühnenstars eine längere Philippika an das Publikum richtet, in der sie mit siebentausend entrechteten und bewaffneten Rächern vor dem Theater droht, die alles und jeden vernichten werden. Sie tut dies mit einer der Nonchalance und Sicherheit, als hätte sie dreißig Jahre Bühnenerfahrung hinter sich. Hier wächst ein Talent heran, dessen Name schon in wenigen Jahren jedem Theaterbesucher geläufig sein könnte – wenn Elen beim Theater bleibt!
Das Publikum würdigte dieses interdisziplinäre Projekt mit kräftigem Beifall und bedachte dabei die kleine Elen Gourio mit besonders starkem Applaus.
Frank Raudszus
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