Leoš Janáçeks Oper „Die Sache Makropulos“ lief in Darmstadt das letzte Mal vor genau achtzehn Jahren und erntete damals gemischte Kritiken. Die statisch-handlungsarme Oper mit vielen komplizierten Dialogen fand in der damaligen Inszenierung keine Belebung und zeichnete sich nur durch die expressive Musik aus. Da stellte sich die Frage, wie denn eine neue Inszenierung mit den Schwächen des Librettos umgehen und ob sie mehr Dramatik auf die Bühne bringen würde.
Regisseurin Eva-Maria Höckmayr und Bühnenbildnerin Julia Rösler haben darüber offensichtlich lange nachgedacht und schließlich originelle Ideen entwickelt. Der erste Akt besteht aus langen Diskussionen in einer Anwaltskanzlei über eine uralte Erbstreitigkeit, in die sich plötzlich die berühmte Opernsängerin Emilia Marty einmischt. Sie sucht dringend nach einem Dokument in der Erbnschaft und nutzt ihre Attraktivität, um die Beteiligten zur Herausgabe dieses Dokuments zu bewegen. Die Männer verfallen ihr reihenweise, können oder wollen jedoch ihren Wunsch nicht erfüllen. Der zweite Teil spielt auf einer Theaterbühne nach einer Vorstellung und bringt die Erklärung: Emilia Marty nahm einst einen Zaubertrank zu sich, der ihr dreihundert Jahre Lebenszeit bescherte, und nähert sich jetzt, mit 337 Jahren, dem Ende ihres Lebens. Da sie deutliche Zeichen der Lebensmüdigkeit zeigt und die normalen Menschen um ihre begrenzte Lebenszeit beneidet, ist ihre Suche nach dem Dokument anfangs unklar und dann unlogisch. Denn es handelt sich um das Rezept für die „Medizin des ewigen Lebens“. Warum sie dieses benötigt, da sie doch sterben will und aufgrund der Begrenzung auf drei Jahrhunderte auch wird, erschließt sich aus dem Text nicht. Doch bekanntlich darf man Opern-Libretti nicht zu sehr hinterfragen, sondern sollte sich auf die emotionalen Affekte konzentrieren, die in diesem Fall mit einem nahezu unbegrenzten Leben verbunden sind. Und die kommen in Janáçeks Oper deutlich zum Ausdruck.
Die Regie arbeitet – in schöner Selbstreferentialität! – von Anfang an mit der Theater-Metapher. Wenn sich der Vorhang hebt, sieht man, wie das technische Personal des Staatstheaters die Kulissen eines vermeintlichen Bühnenbildes abbaut. Offensichtlich ist gerade eine Vorstellung zu Ende gegangen – natürlich eine mit Emilia Marty, wie man später weiß. Hinter einem Gaze-Vorhang kommen verschiedene Männer mit Blumensträußen auf die Bühne, die sich gegenseitig misstrauisch beäugen und aus dem Weg gehen. Strebt einer von ihnen jedoch zielsicher einem Ausgang zu, folgen die anderen ihm, weil jeder Angst hat, die anderen könnten ihre Blumen vor ihm bei der berühmten Sängerin abliefern. Damit ist die Dame bereits „im Raum“, bevor sie überhaupt aufgetreten ist. Nur eine verschwommene Video-Sequenz auf dem Gaze-Vorhang zeigt die Ahnung einer schlanken Frau in Weiß – quasi als Vision der Blumenmänner.
Die anschließende ausgedehnte Szene in der Anwaltskanzlei spielt sich auf zwei Ebenen ab: auf der Bühne singen die männlichen Darsteller ihren jeweiligen Part mit minimaler szenischer Ausprägung, fast ein wenig wie in einer konzertanten Aufführung. Der Gaze-Vorhang lässt diese „Live“-Szenen zusätzlich verschwimmen. Katrin Gerstenberger singt den Part der hinzukommenden Emilia Marty vom Rang der Zuschauertribühne aus und betritt die Bühne erst zum Schluss des ersten Aktes. Auf einer überdimensionierten Leinwand im Bühnenrückraum läuft dieselbe Szene noch einmal in einem realistischen Büro-Interieur ab, wobei hier dieselben Sänger in berufstypischer Kleidung (Anwaltsbüro) agieren und zum Teil auch die gesungenen Texte mündlich nachformen. Emilia Marty jedoch wird nacheinander von fünf Schauspielerinnen des Staatstheaters gespielt, mal als reife, emanzipierte Frau, mal als ein wenig weltfremd-staunende Frau (die männlichen Schutzes bedarf), mal als laszives Luder, das sich nackt auf dem Schreibtisch des Anwalts räkelt. Allen sind blonde Haare und weißer Hosenanzug gemeinsam (sofern sie überhaupt etwas anhaben). Unübersehbar zeigen diese Video-Sequenzen die Projektionen und Phantasien der beteiligten Männer, von denen sich keiner der Wirkung dieser Frau entziehen kann. Dieser multimediale Regieeinfall, nicht unbedingt neu und bisweilen schon fast totgeritten, haucht dieser Inszenierung jedoch Leben ein und verdeutlicht den Subtext der ausgedehnten Szene im Anwaltsbüro. Das Zusammenspiel zwischen der Musik aus dem Graben – geleitet von GMD Will Humburg -, den Sängern und den Video-Clips gestaltet sich ausgesprochen heikel, da einerseits die Mundbewegungen der Schauspieler(innen) zu dem gesungenen Text, andererseits auch Janáçeks Musik zu Gestik und Mimik der Darsteller passen müssen – von sängerischen Aspekten ganz abgesehen. Statt der üblichen zwei Freiheitsgrade – Musik und Bühne – sind hier also derer drei zu berücksichtigen, was die Komplexität exponentiell erhöht. Als Effekt aus diesem funktionierenden Zusammenspiel – und es passt tatsächlich über lange Strecken! – ergibt sich eine außerordentliche, streckenweise fast existenzielle Dichte der Gesprächshandlung, nicht zuletzt durch die darstellerische Leistung der fünf Schauspielerinnen Karin Klein, Gabriele Drechsel, Katharina Hintzen, Katharine Susewind und Véronique Weber.
Der zweite Teil spielt dann auf der Meta-Ebene der Bühne auf der Bühne. Wieder basteln die Techniker in routinierter Sachlichkeit an den Kulissen herum, während rund um sie die Handlung des zweiten Aktes fortschreitet. Während es im ersten Akt im Wesentlichen um die Rückschau auf die Hintergründe des alten Erbstreits und die undurchsichtige Rolle von Emila Marty ging, folgt jetzt die Erklärung ihrer Alterslosigkeit einschließlich der Verzweiflung über ein leeres und kaltes, weil unbegrenztes Leben. Daraus resultiert auch ihre emotionale und erotische Kälte, die Jaroslav Prus bitter zu spüren bekommt, nachdem er Emilia das ersehnte Dokument übergeben hat. Wenn die innerlich erkaltete und leere Emilia am Ende das Dokument verbrennt und im Bühnenhintergrund auf ihren Tod wartet, tritt die metaphorische Aussage dieser Oper, die auf einer Komödie des tschechischen Dichter Karel Çapek aus dem Jahr 1922 beruht, deutlich zutage: der existenzielle Traum des Menschen vom ewigen Leben ist ein Albtraum.
Leoš Janáçeks Musik ist das tragende Element dieser Oper. Statt eingängiger Themen und Leitmotive verwendet er eine Fülle kurzer und kürzester Motive ephemeren Charakters, die jeweils das Ereignis, die Person oder die emotionale Befindlichkeit widerspiegeln. Dabei nutzt er allen Möglichkeiten von Harmonik, Melodik, Rhythmik, Dynamik und Klangwirkung. In immer neuen Kombinationen dieser musikalischen Elemente schafft er einen Kosmos von Klangflächen und Affekten, die sich im Einzelnen schwer nachvollziehen lassen. Wiedererkennbarkeit ist nicht sein Ziel, sondern die intensive musikalische Bebilderung des Augenblicks. Vor allem die weitestgehend freie Metrik erschwert das Zusammenwirken mit den Sängern außerordentlich, da diese sich nicht auf einen vorgegebenen metrischen Rahmen verlassen können, sondern sich in die oft vertrackten Rhythmen der Musik „ad hoc“ einfinden müssen. Das gelingt nicht immer perfekt, doch lässt dabei die Frage offen, was eigentlich „perfekt“ bedeutet. Will sagen, den Sängern steht ein Freiraum zu, innerhalb dessen sie sich mit der Musik aus dem Orchestergraben synchronisieren können (und müssen). Die Wirkung auf die Zuhörer ist dabei der einzige Bewertungsmaßstab, und sie kann natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich ausfallen. Ungeachtet dieses Spielraums lässt sich sagen, dass Orchester und Sänger(innen) an diesem Abend über weite Strecken eine außerordentliche musikalische und dramatische Dichte erzeugten, die das Publikum in seinen Bann schlug. Dank beherzter und engagierter Leistungen aller Beteiligten zeigten sich die logischen und dramaturgischen Schwächen des Librettos an diesem Abend nicht in der Schärfe wie vor achtzehn Jahren.
Katrin Gerstenberger beherrscht mit ihrer stimmlichen und darstellerischen Präsenz vor allem den zweiten Akt. Wenn auch in einigen Phasen ein wenig zu forciert, bringt sie – nicht zuletzt dank ihrer in allen Lagen raumfüllenden Stimme – Dramatik und Spannung auf die Bühne und hält diese bis zum Schluss aufrecht. Thomas Piffka als Albert Gregor, stimmlich durchaus präsent, wirkt sowohl auf der Bühne als auch in den Videos etwas steif und nicht wie ein Mittdreißiger, den unerwiderte Liebe, drohender Bankrott und letzte Hoffnung auf ein großes Erbe durcheinander schütteln. Krzysztof Szumanski gibt dagegen den Anwalt Dr. Kolenatý überzeugend und stimmlich präsent. Stefan Adam spielt den Jaroslav Prus als mehrdeutige, fast ambivalente Figur mit scharfen Konturen, und Michael Pegher gibt einen unterwürfigen, verschatteten Büroleiter Vitek. Xiaoyi Xu als Krista und David Lee als Janek stehen für die in dieser Oper weniger beachtete Jugend, füllen ihre Rollen jedoch glaubwürdig aus. Andreas Wagner verleiht seiner Rolle als vergreister Liebhaber der Marty sogar einigen Humor. In weiteren Rollen treten Anja Bildstein (Kammerzofe), Nicolas Legoux (Theatermaschinist) und Gundula Schulte (Aufräumfrau) auf.
Das Premierenpublikum würdigte die Leistung aller Beteiligten mit anhaltendem, kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
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