Im Staatstheater Darmstadt schlagen die Wogen der Leidenschaften und der Machtgier in dieser Saison hoch. Nach „Caligula“ und „Die Herzogin von Malfi“ im Schauspiel schließt sich jetzt auch die Oper diesem Themenreigen mit Giuseppe Verdis „Simon Boccanegra“ an. Dirk Schmeding, frei schaffender Regisseur mit einem breiten Hintergrund, hat sich des etwas konstruiert anmutenden Librettos angenommen und es in Darmstadt zusammen mit Will Humburg am Dirigentenpult in Szene gesetzt.
Das Bühnenbild von Stephan von Wedel setzt gleich zu Beginn deutliche Zeichen. Bereits bei Einlass des Publikums laufen schwere nächtliche Meereswogen in fahlem Schwarz-Grau über einen die gesamte Bühne überspannenden Gaze-Vorhang. Wolkenfetzen jagen dicht über die Wellenkämmen hinweg und entfachen eine düstere Stimmung von Wildheit und Verderben. Hier ist die Redewendung von den „Wogen der Leidenschaften“ in unübersehbarer Metaphorik in Szene gesetzt.
Die Handlung läuft dagegen eher langsam und fast kammermusikalisch an. Statt einer ausgedehnten Ouvertüre erklingt ein eher sprödes und kurzes Vorspiel, das nach wenigen Takten in die szenische Handlung übergeht. Auf der Bühne planen Genuas Plebejer unter Führung des ehrgeizigen Paolo, den beliebten Korsaren Simon Boccanegra als Dogen gegen die Fieschi aufzustellen. Boccanegra hat einst Fiescos Tochter geschwängert und obendrein den Säugling bei einer Amme versteckt. Als Fiesco ihm Frieden gegen die Überlassung seiner Enkelin anbietet, muss Boccanegra eingestehen, dass die Kleine nach dem plötzlichen Tod der Amme verschwunden ist. Fiescos Tochter ist mittlerweile aus dramaturgischen Gründen verstorben (Verdi braucht sie nicht mehr), und Boccanegra sitzt mit der Hilfe Paolos und der Plebejer auf einem einsamen Dogenthron, mit Fiesco als ewigem Feind im Nacken.
Dieser Prolog ist dramaturgisch und musikalisch bewusst knapp, ja fast karg gehalten, um den reinen Hintergrundcharakter zu betonen. Diese Szenen sind bereits während ihrer Entstehung Vergangenheit, und dieser Umstand schlägt sich in einer bewusst kargen Bühnensprache nieder.
Die eigentliche Handlung beginnt mit dem ersten Akt Jahre später. Die von Paolo umschwärmte Amelia Grimaldi liebt den jugendlich-aufbrausenden Gabriele Adorno (!) und fürchtet sich vor Paolo. Als der Doge Boccanegra für Paolo um sie werben will, erzählt sie ihm, dass sie eigentlich keine Grimaldi, sondern eine Waise aus einem kleinen Fischerdorf bei Pisa sei. Schnell erkennt Boccanegra sie als seine Tochter, und man fällt sich in die Arme. Als Boccanegra sich weigert, Amelia Paolo zur Frau zu geben, sinnt dieser auf Rache. Nach einem Aufstand werden Adorno und Pater Andrea, in dem die Zuschauer schon längst den verkleideten Fiesco erkannt haben, vor den Dogen gebracht. Adorno sieht in Boccanegra wegen dessen liebevollen Art gegenüber Amelia sofort den Rivalen, da die familiäre Beziehung – aus dramaturgischen Gründen! – noch geheim gehalten wird. In seiner Eifersucht lässt er sich von Paolo zum Mord anstiften. Als er mit dem Messer in der Hand vor dem Dogen von dessen Vaterschaft zu Amelia erfährt, fällt er ihm reuevoll zu Füßen, doch Boccanegra leidet bereits unter dem Gift, dass ihm Paolo in den Becher geschüttet hat. Am Ende ist der Aufstand gescheitert, Paolo als Mordanstifter entlarvt und zum Tode verurteilt, und Boccanegra segnet nicht nur sterbend die Ehe von Amelia und Gabriele Adorno, sondern versöhnt sich auch noch mit Fiesco, der endlich seine Enkelin in die Arme schließen kann.
Das Libretto spiegelt die Vorliebe des 19. Jahrhundert für tragische und geheimnisumwitterte Familiendramen wider. Da wird denn auch unbedenklich Politik mit persönlichen Leidenschaften vermischt, und eine klare Linie wie im 20. Jahrhundert, als es vorrangig um herrschende politische Verhältnisse und deren Veränderung ging, findet man hier nicht. Zu Verdis Zeiten behandelte man politische und private Konflikte unbekümmert in parallelen Handlungssträngen, einfach, weil sie in der Realität ebenfalls – wie auch heute noch – gleichzeitig und (un)abhängig voneinander auftraten. Diese Oper ist also weder eine politische noch eine menschlich-persönliche, sondern behandelt beide Ebenen ohne ideologische Schwerpunktsetzung. Machtgier ist menschlich, könnte das Motto lauten.
Dirk Schmeding hat diesen Sachverhalt deutlich erkannt und verzichtet daher von vornherein auf eine plakative Aktualisierung, obwohl diese sich mit den bürgerkriegsähnlichen Zuständen in Genua sowie zwischen Genua und Venedig geradezu anbietet – Stichwort „Syrien“! Das Bühnenbild wird einerseits durchgehend durch die Meeresmetapher geprägt, andererseits durch einen zeitlos-modernen Palast, der keiner politischen Epoche zuzuordnen ist. Das große Heiligenbild im Hintergrund des Dogenpalastes bildet dabei eine rätselhafte Ausnahme, da sein Inhalt keinerlei Bezug zur Handlung enthält. Gerade die Rätselhaftigkeit verleiht diesen Szenen jedoch eine gewisse Einzigartigkeit, weil sie der Handlung eine unausgesprochene Bedeutung aufprägt.
Die Kostüme bewegen sich durchweg im historischen Bereich, ohne dass die Inszenierung deswegen zur Ausstattungsoper abgleitet. Die Kostümierung reicht gerade dazu, die Handlung historisch zu verorten, fordert jedoch keinen darüber hinausgehenden Eigenwert ein. Weder werden die Zeit noch die Handlung noch die Personen durch die Kostüme über Gebühr in den Vordergrund gehoben. Dafür betont Regisseur Schmeding jedoch den emotionalen Stellenwert der einzelnen Handlungselemente und Personen. Simon Boccanegra durchläuft bei ihm eine deutliche Entwicklung vom draufgängerischen Korsaren zum aller Gewalt abschwörenden Dogen, der sogar seinen persönlichen Feinden verzeiht. Auch die Figur des Paolo wird sorgfältig in einem nachvollziehbaren Spannungsbogen aufgebaut und ausgefeilt: vom empörten Plebejer zum ehrgeizigen Politiker und selbstbewussten Freier um die Hand einer vermeintlichen Adligen. Dann die Wandlung vom ergebenen Freund zum rachsüchtigen Feind des Dogen. Selbst Fiesco alias Pater Andrea, lange Zeit eine Nebenfigur, zeigt eine menschliche Entwicklung. Der fast schon klischeehaft aufbrausende Gabriele Adorno wandelt sich im Laufe der Handlung, wenn auch etwas holzschnittartig. Nur bei Amelia alias Maria ist eine solche Entwicklung kaum festzustellen. Das liegt jedoch an der im 19. Jahrhundert gängigen Einstellung, die Frauen als zwar moralisch überlegene Wesen anzulegen, die jedoch meist passiv leidend durch die Handlung wandeln. Nur in seltenen Fällen greifen sie aktiv verändernd in die Handlung ein.
Neben der geschlossenen und ausgewogenen Regie verleihen die sängerischen Leistungen dieser Inszenierung einen besonderen Glanz. Lucio Gallo (Gast) beherrscht als Simon Boccanegra über lange Strecken die Handlung auf der Bühne. Seine raumfüllende Baritonstimme passt sich jeder Ausdrucksänderung an und ist sowohl im verhaltenen Sprechgesang wie in dramatischen Momenten präsent und spiegelt den jeweiligen emotionalen Ausdruck wider. Die Wandlung vom unbeherrschten Freibeuter zum staatstragenden Dogen gelingt ihm mühelos und überzeugend. Mickael Spadaccini macht als Gabriele Adorno mit seinem volltönenden, allen Höhenlagen gewachsenen Tenor die Schwächen der etwas klischeehaft angelegten Rolle mehr als wett. Seokhoon Moon dringt als Fiesco bzw. Pater Andra in den tieferen Lagen nicht immer gegen das Orchester durch, doch im mittleren Bereich zeigt er deutliche Präsenz. Krzysztof Szumanski verleiht dem schillernden Charakter des Paolo eine Schärfe, die ihn in der Präsenz an den Hauptdarsteller herankommen lässt. Natalie Karl ist zwar stimmlich durchaus auf der Höhe, kann jedoch wegen der mehr oder minder passiv angelegten Rolle nur in wenigen Momenten der Dramatik wirklich glänzen. In weiteren Rollen treten Georg Festl (Pietro), David Lee (Hauptmann) und Anja Bildstein (Zofe) auf.
Das Orchester unter der Leitung von Will Humburg zeigte hier einmal einen gar nicht typischen „Verdi-Sound“. Von Beginn an herrscht eine fast kammermusikalische Atmosphäre, und durchweg ist ein Verzicht auf die große musikalische Geste zu verspüren. Verdi drückt mit den sparsamsten musikalischen Mitteln die unterschiedlichsten und intensivsten Emotionen aus. Diese Sparsamkeit dürfte auf sein fortgeschrittenes Alter zur Zeit der Entstehung dieser Oper zurückzuführen sein. Mit zunehmendem Alter haben sich schon viele Komponisten der bewusst verknappten Kammermusik verschrieben, deren Eigenarten sich dann auch in der Opernmusik niederschlugen. Natürlich erfordert diese instrumentelle Kargheit höchste Präzision, weil jeder Fehler fatale Hörbarkeit zur Folge hat. Doch das Orchester meistert diese Herausforderung souverän und passt sich der Dynamik des Bühnengeschehens ausgesprochen geschmeidig an. Selbst die einsamen Blechsoli in einzelnen Szenen kamen in einwandfreier Intonation und Interpretation aus dem Graben.
Der Chor ist in dieser Inszenierung ebenfalls vielfältig gefordert. Die unterschiedlichsten Volks-, Palast und Kerkerszenen sind sängerisch und darstellerisch zu absolvieren, und der Chor zeigt sich in all diesen Szenen auf der Höhe seines Könnens. Nicht zuletzt die Chormitglieder tragen entscheidend zu dem intensiven Gesamteindruck dieser Inszenierung bei.
Frank Raudszus
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