Die Idee der Regissuerin Nicole Claudia Weber, während der Ouvertüre zu Johann Strauß´ Operette „Die Fledermaus“ den Anlass für den Racheakt des Dr. Falke darzustellen, wird unfreiwillig zu einer Metapher für diese Inszenierung. Da torkelt der betrunkene Dr. Falke in einem unförmigen Fledermauskostüm über die Bühne und fällt schließlich in den fallenden Vorhang. Statt wie ein Schwan souverän über die Bühne zu gleiten, unterliegt er als Fledermaus-Torso der Schwerkraft des Bühnenbodens.
Ähnlich geht es dieser Inszenierung einer Operette, die selbst von puristischen Opernliebhabern „gerade noch“ akzeptiert wird. Sie bemüht sich über nahezu drei Stunden, elegant in die Lüfte des reinen Spaßes abzuheben, bleibt jedoch bis zuletzt am Boden kleben, um nicht zu sagen, dass sie sich ungeschickt über denselben wälzt. Woran liegt das? Sicher nicht an den Stimmen und an dem Engagement der Darsteller, die ihr Bestes geben und auch stimmlich auf der Höhe sind. Auch nicht an dem Orchester, das unter der Leitung von Michael Nündel gestochen scharf, kontrastreich und fast kammermusikalisch agiert. Doch hier liegt bereits der Kern des Problems: die Auffassung von der Operette.
Die Operette ist reiner Spaß und ironische Kritik zugleich, sie ist aber zugleich auch die Inkarnation der Hochstapelei. Sie gibt sich als Oper, ist aber keine. Den Mangel an Ernsthaftigkeit kompensiert die Operette mit der großen Geste, die mehr vortäuscht als dahinter steckt. Das ist jedoch nicht unbedingt als Täuschung eines unbedarften Publikums zu verstehen, sondern die Hochstapelei bildet sozusagen die Grundstruktur der Operette, und das Publikum weiß das. Man genießt die seichte Handlung und den schnellen Witz, weiß aber, dass dies nicht ernst gemeint ist. Die Operette ist ein wenig wie ein Schauspieler, der einen Hochstapler spielt, weil das Publikum einen Hochstapler sehen will. Dahinter steckt einerseits die (überhebliche) Schadenfreude des Publikums, diese Hochstapelei zu durchschauen, und andererseits der tiefer sitzende Wunsch, auch einmal in höchsten Kreisen so aufzutrumpfen wie die Protagonisten – Grafen und Gräfinnen – einer Operette.
Damit das funktioniert, benötigt die Operette die große Geste mit dem Hang zum Größenwahn. Die Darsteller treten nicht nur in extravaganten Kostümen und in exklusivem Ambiente auf, sondern sie bewegen sich auch mit raumgreifenden Schritten und großen Gesten, als wollten sie die gesamte Bühne erobern. Zur Operette gehört die Nutzung der gesamten Bühne und die Beherrschung derselben durch eine überdeutlich zur Schau gestellte Selbstüberhebung der Figuren. Der Witz entsteht dabei spontan aus dem Kontrast zwischen Darstellung und real-fiktivem Sein.
Was tun dagegen Nicole Claudia Weber und der musikalische Leiter Michael Nündel? Sie reduzieren das Stück bewusst auf Kammerspielniveau, was vorderhand zwar keine Qualitätseinbußen impliziert, doch im Fall der Operette letztlich darauf hinausläuft. Denn mit dieser klanglichen Konzentration, die bewusst auf das große Schwelgen verzichtet und damit gerade vielen ernsthaften Werken zugute kommen mag, zieht der Operette den Schleier der Hochstapelei vom Gesicht, und es bleibt – nichts! Doch die musikalische Reduzierung stellt das kleinere Problem dar. Viel stärker schlagen hier das Bühnenbild und die Kostüme von Friedrich Eggert sowie die Personenführung zu Buche. Der gesamte erste Akt spielt auf einer reduzierten Guckkastenbühne, die locker in die Kammerspiele passen würde. Das Interieur des Hauses Eisenstein ist keine Villa eines Welt- und Lebemannes, sondern eine Etagenwohnung im Stil der späten 80er Jahre mit einer Tendenz zum Bürgerlich-Biederen (Schlafzimmer plus Bad mit Bidet). In dieser beengten Vorstadtwohnung spielt sich das Geschehen des gesamten ersten Aktes ab, und es liegt auf der Hand, dass sich die Darsteller hier keine großen Gesten oder gar raumgreifende Schritte leisten können. Wie beim Fehlstart eines Rennwagens wegen Motorschadens zuckelt die Operette als durchschnittliches Boulevardstück über die zugestellte Rennbahn der Bühne, und als Darmstädter fühlt man sich unbewusst an das gute alte Boulevard-Theater TAP erinnert. In diesem fast schon kleinbürgerlichen Ambiente kann keiner der Darsteller die eigentlichen Gags der „Fledermaus“ zum Zünden bringen, und die groteske Hochstapelei gerinnt zum kleinteiligen Alltagswitz.
Zum zweiten Akt – beim Fest des angeblichen Fürsten Orlofsky – öffnet sich zwar die Bühne des Großen Hauses, doch das eigentliche Spiel findet wieder in einem begrenzten Raum an der Rampe statt. Dazu hat die Regie für dieses Kostümfest ausgerechnet das Zeitalter des späten Barock und frühen Rokokkos gewählt, was dazu führt, dass der gesamte Chor des Staatstheaters in behäbigen Gehröcken und Perücken herumsteht oder gravitätisch umherschreitet. Dynamik ist etwas anderes, auch wenn sich einige Tänzerinnen um Auflockerung des Geschehens bemühen. Die handelnden Personen bewegen sich eher statisch im vorderen Bühnenbereich, und der Witz beschränkt sich weitgehend auf die Mimik sowie die Texte der Arien. Die fehlenden Einfälle bei der Personenregie führen auch zu gefühlten Längen bei den Sprechszenen, die bekanntlich nicht zu den Höhepunkten einer Operette gehören.
Das Grundproblem des ersten Aktes findet sich auch im dritten Akt wieder: das Gefängnis nimmt denselben kammerkleinen Teil der Bühne ein, der Rest ist verhängt. Dafür hat sich die Regie einen besonderen Gag einfallen lassen: man engagierte den Darmstädter mimischen und mundartlichen Lokalhelden Walter Renneisen als Gefängniswärter Frosch. Doch leider gerät diese eigentlich gute Idee zum Bumerang, weil man dem Alleinunterhalter Renneisen hier eine gut viertelstündliche Solonummer einräumt, die einerseits wenig mit der „Fledermaus“ zu tun hat und andererseits dem Darsteller die Möglichkeit gibt, sein weithin bekanntes Tournee-Programm „Deutschland, deine Hessen“ abzuspulen. Man merkt die lokalpatriotische Absicht (wessen?) und ist leicht verstimmt. Es vergeht eine gefühlte Ewigkeit, bis endlich der immer noch betrunkene Dr. Frank eintrifft und die Handlung weitergehen kann. À propos „betrunken“: die Regie reitet auf Lallen und Torkeln von Betrunkenen etwas zu penetrant herum. Betrunkene Figuren mögen vor Jahrzehnten noch das Publikum zum Schenkelklopfen verleitet haben, mittlerweile gilt diese Art der Darstellung jedoch als ein wenig überstrapaziert, weswegen man sie nur noch sehr sparsam einsetzt. Jedoch nicht hier, wie Carsten Süss (Eisenstein), Georg Festl (Dr. Frank) und Walter Renneisen überdeutlich vorführen.
Die Darsteller bemühen sich allerdings, der Inszenierung Leben einzuhauchen. Die stimmlichen Leistungen bewegen sich durchweg auf hohem Niveau. Katharina Persicke gibt eine überzeugende und sehr präsente Rosalinde, während Katharina Ruckgaber als Adele mit viel Temperament und einer brillanten „Marquis“-Arie glänzt. Bei den Herren zeigt Carsten Süss (Eisenstein) viel Bühnenpräsenz und eine solide gesangliche Leistung, während Georg Festl in der Rolle des Gefängnisdirektor zwar weniger Möglichkeiten hat, sein Können zu beweisen, aber dennoch eine runde Leistung abliefert. Xiaoyi Lee setzt die Vorgabe des Librettos, das den angeblichen Prinzen Orlofsky durch eine arbeitslose Schauspielerin darstellen lässt, konsequent um und erscheint im glitzernden Goldkostüm – so wie sich Kinder einen Prinzen ganz naiv vorstellen. Chacun à son gout! In weiteren Rollen treten David Lee (Alfred), Christoph Filler (Dr. Falke) und Michael Pegher (Dr. Blind) auf, von Walter Renneisen als Frosch ganz zu schweigen.
Der Schlussbeifall war denn auch eher freundlich als enthusiastisch, was sich schon durch verhaltene Szenenapplause und wenige Lacher angekündigt hatte. Diese Inszenierung liefert nette Unterhaltung, aber nicht die große Illusion der Operette.
Frank Raudszus
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