Charles Dickens, sozial engagierter Schriftsteller der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, prangerte mit seinen Werken die katastrophalen sozialen Zustände im frühindustriellen England an. Das zeitigte vor allem im Zusammenhang mit großen christlichen Festen wie Weihnachten die erwünschte Wirkung. In der Erzählung „A Christmas Carol“ stellt er den geizigen und herzlosen Geschäftsmann Ebenezer Scrooge (deutsch „Geizhals“) in den Mittelpunkt einer ganz anderen Weihnachtsgeschichte. Scrooge, der seine knallharten Kredit- und Wuchergeschäfte unter dem Portrait seines bereits vor Jahren verstorbenen und wegen seines noch größeren Geschäftssinns und Geizes von Scrooge bewunderten Geschäftspartners Marley tätigt, bezahlt nicht nur seinen Mitarbeiter Cratchit miserabel, sondern beschimpft ihn auch permanent wegen angeblicher Unpünktlichkeit und falscher Sentimentalität. Sogar den freien Weihnachtstag will er ihm vom Gehalt abziehen. Seinen Neffen Fred, ein zwar gutmütiger und auch großzügiger Genießer mit Schulden bei seinem Onkel, verachtet er nicht nur wegen seiner geschäftlichen Untüchtigkeit, sondern wirft ihn am Tag vor Weihnachten hinaus, weil er ihn mit einem unnützen Geschenk von der Arbeit ablenkt.
Nach diesem für seine Geizhals-Karriere denkwürdigen Vorweihnachtstag besuchen ihn nachts verschiedene Geister. Erst berichtet ihm sein Ex-Partner Marley über das für einen hartherzigen Geizhals schreckliche Jenseits, dann erscheinen ihm mehrere Weihnachtsgeister, die sich nur in der Nacht vor Weihnachten materialisieren dürfen, und zeigen die Weihnachtsfeste in Scrooges früherem Leben, den wahrscheinlichen Verlauf des aktuellen Festes und ein zukünftiges Weihnachtsfest. Dabei sieht Scrooge wie im Zeitraffer seine Entwicklung von einem einsamen Internatsschüler zu einem verliebten Angestellten eines großzügigen Tuchhändlers und schließlich zu einem angehenden Geschäftsmann ohne Sinn für die Bedürfnisse seiner Verlobten. Sein geschäftlicher Erfolg hat ihn geradenwegs in die Einsamkeit des Alters geführt. Dann sieht er das traurige Weihnachtsfest seines unbezahlten Mitarbeiters, der seiner Familie nicht einmal zu Weihnachten eine sättigende Mahlzeit bieten kann, und schließlich sein einsames Grab, das niemand besucht außer sein gerade von ihm beschimpfter Neffe Fred.
Schockiert von diesem nächtlichen Erlebnis wandelt sich Scrooge von einem Moment auf den anderen, spendiert Cratchits Familie incognito einen Weihnachtstruthahn, verdoppelt Cratchits Gehalt und spendet auch sonst größere Beträge für soziale Zwecke.
Eine solch wundersame Wandlung eines eingefleischten Geizhalses funktioniert natürlich nur in weihnachtlichen Geschichten. Renate Renken hat denn auch dieses Stück, das der Theaterautor Gerold Theobalt für die Bühne aufbereitet hat, mit vielen weihnachtlichen Effekten gespickt, ohne deswegen in falsche Sentimentalität zu verfallen. Dazu gehören in erster Linie englische Weihnachtslieder, die das Ensemble je nach szenischem Kontext in verschiedenen Konstellationen zum besten gibt. Dabei merkt man den Darbietungen an, dass die Darsteller sie stimmlich und sprachlich ausgiebig geprobt haben, denn die Ergebnisse lassen sich hören!
Das beginnt bereits in der ersten Szene, wenn der grantige Scrooge (Rainer Poser) seinen Bürodiener Cratchit (Axel Raether) hinausschickt, um die lästigen Armen zu verjagen, die sich durch Absingen von Weihnachtsliedern ein Almosen erbitten wollen. Diese Situation zieht sich wie ein Leitmotiv durch die nächsten Szenen, wobei Scrooge bei jedem Anschein eines Gesangs einen Wutanfall erleidet. Das Ganze spielt sich unter dem lebensgroßen Portrait seines Ex-Partners Marley ab, den Ralph Dillmann über eine lange Zeit als „stehendes Bild“ darstellt, ohne mit der Wimper zu zucken. Eine besondere Leistung der Selbstdisziplin! Erst nach Scrooges Einschlummern gegen Mitternacht darf Dillmann – wie der MGM-Löwe – sein Gesicht zu einem Brüllen verziehen und dann als Geist aus dem Bild steigen. Die folgende Szene ist für Kinder unter sechs Jahren eine Härtetest, denn Ralph Dillmann spielt den mit schweren Schuldketten beschwerten Geist Marleys bei abgedimmtem Licht mit einer solchen Inbrunst, dass Kinderherzen schneller zu schlagen beginnen und sich ein wenig Angst in den Köpfen der Kleinen einnistet.
Überhaupt ist diese Inszenierung eine des Lichts bzw. dessen Fehlens. Die nächtlichen Geisterszenen fordern die Dunkelheit geradezu, und so folgt der verunsicherte Scrooge dem jeweiligen Geist und dessen Eintrittstor in Vergangenheit und Zukunft im Halb- oder Dreivierteldunkel der Geisterstunde. Bisweilen leuchtet nur die kleine Laterne des Geistes. Besonders gruselig wird es dann bei dem Geist der zukünftigen Weihnacht, den Ralph Dillmann im langen Kapuzenmantel und mit verhülltem Gesicht spielt. Vor Scrooges imaginärem Grab stößt er den Geizhals mitleidlos auf seine eigene, einsame Zukunft als unbetrauerter Toter.
Fast zu jeder Szene singen die Beteiligten dann ein passendes Weihnachtslied, teils aus dem rein englischen, teils aus dem internationalen Liedgut. Die gelungene gesangliche Interpretation zur Klavierbegleitung von Heike Pallas motiviert dann so manche Besucherin zum sichtbaren Mitsummen oder gar leisen Mitsingen.
Am Ende folgt dann natürlich die weihnachtlich versöhnende Wandlung des Geizhalses. Wie in einem Märchen – schließlich ist es ja eins – erkennt der Böse seine Schuld und überschüttet alle von ihm Unterdrückten, Verachteten und Abgewiesenen mit großzügigen Geschenken. Ganz so, wie es zum Weihnachtsfest sein sollte. Rainer Poser kann hier seine andere Seite zeigen und seine humoristischen Fähigkeiten ausspielen. Nur der arme Cratchit weiß anfangs nicht, wie ihm geschieht, als Scrooge ihn nach dem freien Tag und verspätetem Arbeitsbeginn in sein Arbeitszimmer zitiert. Den Rauswurf erwartend, muss er die Verdoppelung seines Lohns erst einmal verstehen. Axel Raether treibt diese fassungslose Versteinerung so weit, dass sein Cratchit den Raum mit einer vollen Geldbörse in der Hand wie in Trance verlässt.
Alle Beteiligten gehen dieses Stück mit viel (weihnachtlicher) Empathie an. Marcel Schüler spielt einen lebenslustigen Fred, der Cratchits minderjährigen Sohn spontan für einen stattlichen Lohn einstellt, ansonsten aber auch ganz gut mit Schulden (bei seinem Onkel) leben kann. Gabriele Reinitzer spielt Cratchits verhärmte Frau mit Sinn für den Widerstand der Entrechteten sowie den „Geist der vergangenen Weihnacht“, Bianca Weidenbusch tritt gleich in drei Rollen auf, unter anderem als „Geist der gegenwärtigen Weihnacht“ in bunten Kleidern. Auch Sabrina Czink wechselt die Kostüme zwischen verschiedenen Rollen: Cratchits Tochter, Scrooges Verlobte und Freds Frau. Markus Hill tritt als Spendensammler und als junger Scrooge auf, und Jens Hommola muss ebenfalls in verschiedene Rollen schlüpfen. Die Besetzungsliste im Programmheft nimmt eine ganze Seite ein, allerdings mit wiederkehrenden Namen.
Wenn Ebenezer Scrooge am Ende vom Saulus zum Paulus mutiert ist, erscheint das gesamte Ensemble auf der Bühne und singt zum Ausklang „Silent Night, Holy Night“. Das passt doch wunderbar in die Adventszeit!
Das Publikum fühlte sich gerührt und dankte dem Ensemble mit lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
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