Zerocalcare: „Kobane Calling“

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Die syrische Stadt Kobane nahe der türkischen Grenze stand vor drei Jahren im Blickpunkt der Weltöffentlichkeit, da der IS vor den Toren der Stadt stand und mit der Einnahme einen durchgehenden Streifen Landes im Norden des Landes erkämpft hätte. Die Kurden konnten die Dschihadisten im letzten Augenblick und mit amerikanischer Hilfe vertreiben und damit die Situation in Nordsyrien ein wenig stabilisieren. Vom mittlerweile eingetretenen Ende des IS-Kalifats konnte damals jedoch noch keine Rede sein.

Der italienische Comic-Autor Michele Rech, Comic-Kennern eher unter dem Pseudonym „Zerocalcare“ bekannt, hat seine persönliche Kobane-Geschichte in diesem umfangreichen Comic verarbeitet. Der textliche und bildliche Stil sowie die beschriebenen Details lassen darauf schließen, dass der Autor die beschriebenen Reisen selbst unternommen hat und es sich damit sozusagen um einen authentischen Reisebericht handelt. Die immer wieder aufblitzende  ironische Selbstkritik und die Ernsthaftigkeit bei Begegnungen mit menschlichem Leid und Kriegsfolgen lassen es unwahrscheinlich erschienen, dass der Autor seiner Phantasie in sicherer Entfernung freien Lauf gelassen hat.

In seinem römischen Dunstkreis von Hipstern, Abhängern, politischen Rebellen und Tagträumern kommt angesichts der Ereignisse um Kobane die Idee auf, vor Ort irgendwie zu helfen. Nach entsprechenden Recherchen bei kurdischen und syrischen Migranten sowie anderen Beteiligten des Bürgerkrieges fliegen sie in die Türkei und gelangen bis an die Grenze bei Kobane. Den Grenzübertritt nach Kobane trauen sie sich angesichts der militanten Präsenz der IS-Kämpfer sowie der nicht zu übersehenden Kampfhandlungen doch nicht zu. So versorgen sie Flüchtlinge in den grenznahen Camps und packen Lebensmittelsendungen.

Nach dem Sieg der Kurden über den IS in Kobane fliegen sie ein zweites Mal in das Krisengebiet, nun aber in die irakischen Gebiete der Kurden und von dort aus nach Syrien mit dem Ziel Kobane. Dabei treffen sie auf eine Reihe ehemaliger und aktiver Kämpfer, wobei vor allem die kurdischen Kämpferinnen einen tiefen Eindruck auf den Autor machen. Auch das kleine autonome Gebiet Rojava an der türkischen Grenze beeindruckt ihn tief, weil dort eine völlig gleichberechtigte und demokratische Verfassung eingeführt wurde und offensichtlich auch gelebt wird. Doch wir wollen hier nicht die gesamte Reise im Detail schildern und damit potentiellen Lesern die Spannung rauben….

Zerocalcare zeichnet seine Menschen in einem ansatzweise realistischen, jedoch typisierten Stil. Die einzelnen Personen sind leicht wiedererkennbar und auch in ihren Emotionen und Ängsten glaubwürdig dargestellt. Das Gleiche gilt für die Orte und Ereignisse, die der Autor bis hin zu Rauchwolken und Gefechtsszenen realistisch darstellt, ohne jedoch dabei in Gewaltphantasien zu schwelgen. Eine Besonderheit dieses Comics ist seine selbstbezügliche Ironie. Der Autor blendet immer wieder Gespräche mit seiner Mutter ein, bei der er als gutes italienisches Muttersöhnchen auch als Einunddreißigjähriger noch wohnt. Sinnigerweise stellt er sie als korpulente Glucke dar, die sich um sein Wohlergehen sorgt, bei Syrien aber nur an undisziplinierte Autofahrer denkt. Auch seine eigene Befindlichkeit hinterfragt er ironisch. In kritischen Situationen beschreibt er erst, wie er gerne reagiert hätte – mutig, selbstlos und kritisch -, und dann, dass er in Wirklichkeit die Vorsicht vorgezogen hat. Auch sein hipsterhaftes „In-den-Tag-hinein-Leben“ zu Hause in Rom beschreibt und zeichnet er mit konsequenter Selbstironie.

Das Buch liest sich aufgrund der temporeichen und variantenreichen Bildsequenzen ausgesprochen spannend. Außerdem erfährt man viele aufschlussreiche Details über die besuchten Regionen und die dort lebenden Menschen – Opfer und Leidtragende der kriegerischen Ereignisse. Dieser Comic ist nicht nur eingefleischten Comic-Liebhabern sondern auch allen Liebhabern aktuell-politischer Literatur zu empfehlen.

Das Buch „Kobane Calling“ ist im Avant-Verlag erschienen, umfasst 261 Seiten und kostet 24,95 Euro.

Frank Raudszus

 

 

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