Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ ist eines der bedeutendsten Werke der Musikliteratur und hat nicht nur viele Gesang- und Klavier-Intersolisten zu eigenen Interpretationen herausgefordert. Auch verschiedene Komponisten haben dieses Werk auf andere Instrumente und sogar ganze Orchester übertragen. Einer von ihnen ist der deutsche Komponist Hans Zender (*1936), dessen 1993 entstandene Orchesterfassung die hoffnungslose Grundstimmung dieses Werks durch die zusätzlichen Klangmöglichkeiten eines Orchesters noch eindringlicher zum Ausdruck bringen sollte. In dieser Fassung spielen neben Streich- und Blasinstrumenten vor allem verschiedene Schlagzeuge eine wichtige Rolle. Das Orchester besteht aus 24 Musiker, was man als Referenz auf die 24 Lieder des Zyklus auffassen kann.
Diese Bearbeitung von Schuberts „Winterreise“ hat Tim Plegge, der Leider des Hessischen Staatsballetts, als Grundlage seiner Choreographie „Eine Winterreise“ herangezogen. Dabei stellt er jedoch nicht den Tanz, sondern – wohl aus Hochachtung vor diesem Werk – den Liedsänger in den Vordergrund. Die beiden Tenöre Simon Bode und David Zimmer wechseln sich bei den Aufführungen ab, jedoch nicht innerhalb einer Aufführung. Dabei setzt Plegge den Sänger in eine szenische Umgebung, die deutlich an ein Hotelfoyer erinnert. Links sieht man die Glastüren eines Windfangs, zentral den Treppenaufgang und eine höher gelegene Galerie. Der Rezeptionist am Empfang und ein Hotelpage in einer an das frühe 20. Jahrhundert erinnernden Uniform lassen alle eventuellen Zweifel an der Verortung des Bühnenbildes schwinden. Dieser Hintergrund ist natürlich nicht zufällig gewählt, sondern das ruhelose Wandern des Protagonisten in den vierundzwanzig Gedichten von Wilhelm Müller lässt sich optisch am besten durch das anonyme, keine wirkliche Heimat gewährende Foyer eines Hotels wiedergeben.
Wenn sich der Vorhang hebt, hört man zuerst eine gleichmäßiges Geräusch, das entfernt an schleppende Schritte erinnert. Langsam gehen diese atonalen Geräusche unter Beibehaltung der gleichförmigen Metrik in die Klänge von echten Instrumenten über, und daraus entwickelt sich langsam das Vorspiel zum ersten Lied, „Gute Nacht“, das mit der berühmten Strophe „Fremd bin ich eingezogen“ beginnt. Schon hier wird die Grundstruktur der Orchesterfassung Hans Zenders deutlich: es geht ihm nicht um möglichst fülligen Raumklang, sondern vor allem um den speziellen Klang einzelner Instrumente, die die jeweilige Stimmung von Müllers Versen und Schuberts Musik verstärken und erweitern. Zenders Version lässt Schuberts Musik im Kern unverändert und verzichtet auf vordergründige Verfremdung. Doch den Eindruck, den sonst ein in seinen klanglichen Möglichkeiten beschränktes Klavier erzeugen muss, kann hier eine breite Vielfalt von Instrumenten wesentlich eindringlicher vermitteln. Man hört dieser Musik an, dass ihr Komponist Schubert verehrt.
Gleich bei dem ersten Lied beherrscht die Fremdheit und Trostlosigkeit der Situation die Bühne, auf der die Tänzer und Tänzerinnen noch in eher ruhigen Haltungen verharren. Plegge lässt die Handlung, so man denn von einer solchen reden kann, sich langsam entwickeln. Doch bereits hier greift Tenor Simon Bode, der in dieser Inszenierung seinen Gesangspart in eine gewisse gestische Handlung einfügen muss, zum Megaphon und trägt einige Textstelle in bewusst verzerrter Form ins Publikum. Bereits bei dem zweiten Lied, „Die Wetterfahne“, tritt ein Tänzer mit einem Rucksack auf, der im Folgenden herumgereicht oder -gestoßen wird: das klassische Gepäck des Wanderers.
Jetzt belebt sich die Bühne zunehmend. Die Choreographie versucht dabei nicht, die Texte der einzelnen Lieder erzählend nachzubildend, sondern lässt die Stimmung des jeweiligen Liedes in die Figuren einzelner Tänzer oder der Tänzergruppen einfließen. Beim „Lindenbaum“ etwa stehen harmonische Bewegungen im Mittelpunkt, mit denen die Tänzer die wehmütigen Erinnerungen des Wanderers bebildern, während ein Tänzer als Kranker oder Sterbender(?) auf dem Bühnenboden liegen bleibt. Wieder ein Sinnbild für die Situation des Wanderers.
Bei der „Wasserfluth“ verfällt Simon Bode einige Male in eine Sprechrolle und verleiht dem Text dadurch unerwartet szenische Direktheit, und bei „Auf dem Flusse“ erscheint – schemenhaft und ungreifbar – die Geliebte im blauen Kleid in dem Windfang, während andere Tänzer, in dicke Decken gehüllt, auf dem Boden sitzen. Der „Rückblick“ beginnt schnell und hart, während das „Irrlicht“ eine geradezu abgründige Wirkung ausübt. Wenn die „Post“ naht, umzingelt im Halbdunkel eine Schar nackter, sich windender und wechselnd beleuchteter Leiber den verzweifelt sich nach seinem Mädchen sehnenden Wanderer.
Bei den Tänzern schälen sich im Laufe der Choreographie bestimmte Charaktere heraus. Ramon John ist das „alter ego“ des Sängers, also der Wanderer als Tänzer. Um ihn herum tanzen und bewegen sich die anderen Tänzer, unter denen er oft ziellos und scheinbar orientierungslos umherirrt. Nirgends findet er Wärme und Zuwendung, seine Einsamkeit ist existenziell und mehr als nur das Fehlen von Gesellschaft. Müllers und Schuberts Wanderer leidet grundsätzlich an einer Welt, die dem Einzelnen, nicht Angepassten keine Wohnstatt bietet. Diese Situation formen die Tänzer und Tänzerinnen in wechselnden Kombinationen. Da gibt es ineinander verschlungene Paare, denen der Wanderer – mal Simon Bode, mal Ramon John, mal beide – verloren nachschaut, aber da gibt es auch die Dame der Gesellschaft, die dem armen, verlorenen Kerl in der Hotelhalle spöttisch nachschaut. Der Hotelpage in seiner roten Uniform ist ein wandelnder Farbfleck, der sich wie ein schwacher Schimmer der Hoffnung durch die ganze Choreographie zieht. Andere Darsteller schauen sich wehmütig (alte) Fotos an, um sie dann langsam zu zerreißen.
Den „stürmischen Morgen“ intoniert Simon Bode hoch oben von der Galerie zu expressiver Musik des Orchesters, und die Musik zu der „Täuschung“ wirkt anfangs fast wie Tanzmusik aus Grinzig aus dem frühen 19. Jahrhundert. Bei dem Besuch des Totenackers („Das Wirtshaus“) umtanzt eine Gruppe schwarz gekleideter Trauergäste den Protagonisten, und in „Mut“ baut sich noch einmal musikalische Expressivität wie ein letztes Aufbäumen auf.
Während der letzten Lieder leert sich die Bühne langsam aber stetig, so das nahende Ende vorzeichnend. Schon bei den „Nebensonnen“ begleiten nur noch wenige, mittlerweile selbst resigniert wirkende Tänzer den einsamen Sänger, und im abschließenden „Leiermann“ stehen sich beide allein gegenüber: der Wanderer und sein Alter Ego. Wenn Simon Bode nach der letzten Strophe – „Willst Du zu meinen Liedern Deine Leier dreh´n?“ – seitlich von der Bühne geht, bleibt Ramon John als sein tänzerisches Ebenbild in einer rätselhaften Regendusche stehen, bis der Vorhang fällt.
Solo-Gesang, Orchesterbegleitung und Tanz wirken in dieser Choreographie wie ein organisches Ganzes, das sich durch seine innere Balance auszeichnet. Obwohl die Schubertschen Lieder in Gestalt des Tenors Simon Bode im wahrsten Sinne des Wortes im Vordergrund (der Bühne) stehen, tritt die Musik des Orchesters deswegen nicht in den Hintergrund, sondern verstärkt und ergänzt Schuberts musikalisches Material in kongenialer Weise. Bei dieser Musik hört man das Eis des Flusses klirren und die dünnen Blätter in der Winterkälte rascheln. Alles, was die Texte an Kälte, Einsamkeit und Verlorenheit formulieren, wird hier zur musikalischen Realität, die das Publikum bis zum letzten Ton in ihren Bann schlägt. Dazu trägt im gleichen Maße Simon Bodes überzeugende sängerische Leistung bei. Er artikuliert nicht nur derart genau, dass man fast alle Texte versteht, sondern er verleiht auch allen wechselnden Stimmen des Protagonisten derart viel Leben, dass man sich tatsächlich in eine Art Oper versetzt fühlt, in der der Sänger nicht (nur) Lieder präsentiert, sondern wie ein Schauspieler selbst zur Hauptperson wird.
Doch bei aller Schwerpunktbildung der Musik gerät der Tanz nicht zur reinen Bebilderung, sondern agiert auf künstlerischer Augenhöhe mit dem Sänger und dem Orchester. Nicht nur in den Vor- und Nachspielen des Orchesters treten die Tänzer und Tänzerinnen in den Vordergrund, sondern auch während des Gesangsvortrags erweitern sie das szenische Spektrum um den einsamen Wanderer durch klug choreographierte Formationen und Einzelfiguren, die einerseits den Sänger nicht in den Hintergrund drängen, andererseits aber eine permanente Präsenz entwickeln. So hat man Schuberts „Winterreise“ noch nicht gehört und – ja! – gesehen, und damit hat Tim Plegge die Rezeptionsmöglichkeiten dieses Kunstwerks entscheidend erweitert.
Frank Raudszus
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