Die „Tanzplattform Rhein-Main“ ist eine Kooperation des Künstlerhauses Mousonturm und des Hessischen Staatsballetts und hat es sich zum Ziel gesetzt, tanzbegeisterte Laien aktiv an das Tanztheater heranzuführen. Unter Anleitung von professionellen Tänzern und Tänzerinnen der Compagine MAD des Franzosen Sylvain Ground haben etwa 150 tanzbegeisterte Hessen beiderlei Geschlechts und (fast) aller Altersstufen eine Choreographie erarbeitet, die sie am 31. Oktober im Staatstheater Darmstadt vorstellten. Die Musik dazu stammt von dem Amerikaner Steve Reich, der sich wie sein Zeitgenosse und Landsmann Philip Glass lange Zeit der „Minimal Music“ verschrieben hatte. Das 18köpfige französische Ensemble LINKS präsentiert Steve Reichs Komposition „Music for 18 Musicians“, die bereits in den 70er Jahren entstand.
Reichs Musik zeichnet sich durch einfache musikalische Strukturen aus, die sich bei ihrer ostinaten Wiederholung nur geringfügig ändern: mal durch An- und Abschwellen der Intensität, mal durch minimale Änderungen der Rhythmik – daher der Begriff „minimal music“ – und mal durch Einspielen kurzer Melodiebögen durch andere Instrumente. Vorherrschend bleibt jedoch der durchgehend gleichförmige rhythmische Duktus, vorgetragen von Vibraphonen und anderen Perkussionsinstrumenten, Klavieren, Bass-Klarinetten, Geigen und Stimmen.
Zu Beginn fragt man sich im voll besetzten großen Haus, wo denn eigentlich die 150 Tänzer und Tänzerinnen auftreten sollen, denn das Ensemble LINKS belegt nahezu die gesamte Bühne. Doch nachdem die Musiker einige Zeit das Publikum an die trance-artige Musik Steve Reichs gewöhnt haben und für eine Atmosphäre hergestellt haben, die an eine Mischung aus Techno-Disco und fernöstlicher Beschwörungsmusik erinnert, zieht eine erste Prozession von etwa einem Dutzend professioneller und laienhafter Tänzer unter abgezirkelten Bewegungen von Armen und Köpfen auf gewundenen Wegen wie in einer Polonaise mitten durch die Musiker auf der Bühne, um dann wieder zu verschwinden. Auf dieses Signal hin beginnen vereinzelte Zuschauer, vor allen in den vorderen Reihen, die Arme zu erheben und zu schwenken, dann auch aufzustehen und ihre Körper in Drehungen und Windungen zu versetzen. Schnell merkt man, dass es sich nicht um spontane Äußerungen tanzwilliger Besucher handelt, sondern eben um Mitglieder eben dieser Tanzplattform, die nach einer vorgegebenen Choreographie langsam das „Publikum“ zum Tanzen aufstehen lassen. Der scheinbar zögernde Beginn soll dabei den Eindruck erwecken, die sogartige Wirkung der Musik habe das Publikum spontan zu tänzerischen Bewegungen motiviert.
Nach diesem schnell immer deutlicher werdenden Konzept nimmt die Zahl der „Spontantänzer“ stetig zu, und die Bewegungen werden markanter und expressiver, als fielen alle anfänglich eventuell noch vorhandenen Verklemmungen ab. Bald verlassen – zur immer noch gleichförmigen Musik – die tanzenden Besucher ihre Plätze und begeben sich an die Seitenwände oder vor die Bühne, wo sie wie bei einem großen Pop-Konzert weitertanzen. Die tänzerischen Elemente sind dabei deutlich auf Armeheben und – kreisen sowie den bekannten Hüftschwung beschränkt, wie man es von Discos kennt. Dazu schwebt dann auch Disco-Nebel aus den Tiefen der Bühne über die Köpfe der Musiker in den Zuschauerraum, und zu plötzlich anschwellenden Crescendi der Musik erscheinen auf der Bühnenrückwand Videos abstrahierter Figuren in unterschiedlichen Farben, die den Trance-Charakter dieser tänzerischen Séance unterstreichen sollen. Dieses kurze Aufbäumen der Musik schlägt sich in entsprechenden choreographischen Steigerungen des Tanzgeschehens nieder, die in fast ekstatische Eruptionen münden. Mit der Rückkehr zu der ostinaten Repetition der musikalischen Figuren reduzieren sich auch die tänzerischen Aktivitäten stetig und gehen immer weiter zurück, wobei die Tänzer und Tänzerinnen nacheinander auf der Bühne mitten zwischen Musikern einer nach der anderen wie erschöpfte oder sterbende Wesen liegen bleiben. Auch die Instrumente auf der Bühne dünnen unüberhörbar aus, bis zum Schluss nur noch ein einzelnes Vibraphone letzte zuckende Klänge von sich gibt, zu denen vor allem ein älterer Herr wie Laokoon in zentraler Bühnenposition eine ebenso zuckenden Bühnentod erleidet.Dann erlischt mit dem letzten Ton des Vibraphon auch das Licht, und die Performance ist zu Ende.
Doch der kräftige Beifall des tanzenden und nicht tanzenden Publikums, wobei sich nicht mehr sicher die Mitglieder der Tanzplattform von bloßen Besuchern unterscheiden lassen, führt noch zu einer mehrminütigen Zugabe, die jedoch ganz offensichtlich von vornherein eingeplant war, da sie noch einmal zu einem choreographischen Höhepunkt – dem eigentlichen der etwa einstündigen Veranstaltung – führt, der alle, Publikum und Plattform, noch einmal zu einer großen tänzerischen Bewegung zusammenführt.
Diese tänzerischen Großveranstaltung war für alle Beteiligten ein großer Bewegungsgspaß, wenn auch die tänzerischen Mittel allein wegen der Zahl der Beteiligten und ihrer unterschiedlichen tänzerischen Fähigkeiten begrenzt bleiben mussten.
Frank Raudszus
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