Für den Start in die sinfonische Saison des Staatstheaters Darmstadt hatte GMD Will Humburg ein wahrhaft kontrastreiches Programm zusammengestellt. Einziges verbindendes Element war die österreichische Staatsangehörigkeit beider Komponisten, denn nur um zwei Werke ging es. Deren je eigenes musikalisches Schwergewicht hätte auch weitere Werke kaum zugelassen. Mit Mozarts Klarinettenkonzert erklang wohl das berühmteste und unbestritten meisterlichste Konzert dieser Gattung, und Bruckners 9. Sinfonie wetteifert an monumentaler Bedeutung mit einer anderen „Neunten“, ebenfalls in d-Moll und von einem Komponisten vorne im Alphabet. Als Solistin hatte man die Israelin Sharom Kam gewinnen können, und Will Humburg dirigierte selbst das Orchester des Staatstheaters.
Es ist immer wieder erstaunlich, welch großer Konsens bei der Bewertung von Mozarts Klarinettenkonzert herrscht. Man könnte es fast devote Bewunderung nennen, die ihm von allen Kritikern und ausübenden Musikern entgegengebracht wurde und wird, und kritische Stimmen hat man zu diesem Konzert, einem der letzten Werke Mozarts, noch nie gehört. Zu Recht, denn es schlägt den Zuhörer jedes Mal wieder in seinen Bann, vor allem, wenn es von Künstlern wie Sharom Kam gespielt wird. Die noch sehr jung aussehende Klarinettistin lieferte an diesem Konzertabend ein Demonstration dessen ab, was man einer Klarinette an musikalischem Ausdruck entlocken kann. Mozarts Konzert gibt allerdings mit seiner einmaligen Kombination aus höchsten technischen Anforderungen, unaufdringlicher Virtuosität und musikalischem Tiefgang auch alle Möglichkeiten, das jeweilige Können zu beweisen.
Vom ersten Einsatz an bestach die Emphase, mit der Sharon Kam nahezu jede Note formte und modellierte. Ohne in pure Lieblichkeit zu verfallen, verlieh sie jeder musikalischen Figur eine ganz individuelle Prägung und Ausdruckskraft. Im ersten Satz fiel vor allem die ausgeprägte Dynamik mit feinsten Variationen der Intonation auf. Auch die fast abrupten Lagenwechsel kamen bei ihr weich und ohne jegliche Anstrengung, als sei es das Leichteste, von hohen Lagen in tiefere zu springen. Dabei betonte sie die Liedhaftigkeit dieses einleitenden „Allegro“ und vermittelte den Eindruck, als singe sie mit dem Instrument. Dieser Eindruck steigerte sich noch im Adagio des zweiten Satzes, dessen warme Intensität förmlich ins Publikum hineinstrahlte. Den dritten Satz präsentierte sie als sprudelnden Quell musikalischer Ideen, und als Zuhörer hatte man das Gefühl, sie erzähle Geschichten über Musik und Emotionen. Variabilität des Ausdrucks und Bandbreite der Intonation bestachen auch hier trotz des lebendigen Tempos. Leichtigkeit und Wärme sowie der silbrige und warme Ton ihres Spiels beeindruckten das Publikum bis zur letzten Note. Will Humburg und das Orchester begleiteten sie mit hoher Aufmerksamkeit und ließen der Wirkung ihres Spiels viel Raum, ohne deswegen zu sehr zurückzutreten. Will Humburg beobachtete Sharon Kam bei jedem Einsatz mit Argusaugen und folgte ihr mit dem Orchester auf Sekundenbruchteile genau.
Das Publikum feierte diese Interpretation mit starkem Beifall, so dass Sharon Kam mit George Gershwins „Summertime“ noch eine Zugabe spielte, bei der sie ein Kontrabassist in bester Jazz-Manier begleitete.
Eine ganz andere Musik präsentierte das Orchester dann mit der neunten Sinfonie des anderen Österreichers, Anton Bruckner, der nur drei Sätze seines letzten sinfonischen Werks fertigstellen konnte. Alle drei stellen jedoch in gewisser Weise einen exemplarischen Höhepunkt des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar. Bereits im ersten Satz ist bei den einleitenden Hörnersignalen, den weiten Gesten und den lyrischen Zwischenthemen der Einfluss des bewunderten Richard Wagner unverkennbar. Die Melancholie des späten 19. Jahrhunderts und die Verlustgefühle angesichts einer mit der Industrialisierung vergangenen, vermeintlich „guten alten Zeit“ prägen diese Musik ebenso wie die schrillen Eruptionen, mit denen Bruckner die neue Epoche karikiert. Der zweite Satz steigert diese Sicht durch seine ostinaten Akkordketten, die nach einer spannungsgeladenen Aufwärtsbewegung der Streicher wie ein Wirbelsturm hereinbrechen, einige Takte horizontal vorwärtsdrängen und dann abwärts in den Abgrund führen. Der metaphorische Verweis auf den Lauf einer industrialisierten und mechanisierten Welt ist unüberhörbar. Lyrische Einsprengsel lassen kurz Hoffnung aufkommen, ehe die nächsten Akkordketten hineinfahren, und ein schnelles, geschmeidiges Thema wecken Assoziationen an das erhöhte Lebenstempo der Epoche. Die metaphorische Wirkung ist dabei nicht aufdringlich wie bei programmatischer Musik, die bewusst bestimmten Abläufen des realen Lebens folgt, sondern ergibt sich eher aus der Rezeption im Kopf des Zuhörers.
Das „Adagio“ des dritten Satzes führt dann noch einmal in eine innere Welt, die den Menschen abschirmt von den Zumutungen der äußeren Welt und seine Sehnsüchte und Hoffnungen zum Ausdruck bringt. Das vielschichtige musikalische Gemälde bietet mit seinen lang gezogenen Themenbögen alle Farbschattierungen der Klage, der Wehmut und der Hoffnung auf, und von Zeit zu Zeit erhebt sich aus den Streichern ein Aufschrei darüber, dass die Welt nicht so ist, wie das Adagio sie beschwört.
Das Orchester schwang sich mit dieser Interpretation noch einmal zu Höchstleistungen auf, nun aber weniger mit der feinfühligen Begleitung eines Solistenvortrags als mit dem Einsatz aller orchestralen Mittel wie Pauken, Blechbläsern und mächtigen Streicherpassagen. Hier war neben der Expressivität höchste Präzision bei den Einsätzen und Konzentration bei den dynamischen Wechseln gefordert, doch das Orchester meisterte diese Herausforderung dank Will Humburgs Wachheit und vollkörperlichen Einsatzes mit Bravour.
Langer und kräftiger Beifall des Publikums.
Frank Raudszus
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