Tänzerische Karrieren auf der Tanztheaterbühne enden meist um das dreißigste Lebensjahr – vielleicht etwas später. Zu hoch sind die körperlichen Anforderungen, als dass man diesen Beruf beliebig lange ausüben könnte. Da liegt es nahe, sich schon rechtzeitig auf das weitere Berufsleben vorzubereiten, und was liegt da näher als die Laufbahn des Choreographen. Deshalb ermöglicht das Hessische Staatsballett in Wiesbaden und Darmstadt den Tänzern und Tänzerinnen, noch während ihrer aktiven Zeit eigene Chorographien zu entwickeln und dem Publikum vorzustellen.
Am 17. Juni stellten die Mitglieder des Hessischen Staatsballetts in einer eigenen Premiere zwölf eigene Choreographien vor und ernteten dafür am Ende viel Beifall. Zwar konnte man an dieser Auswahl erkennen, dass nicht jedes tanzende Mitglied des Staatsballetts unbedingt zum Choreographen geboren ist, doch der Gesamteindruck zeigte jedoch nicht wenige Talente und originelle Ideen. Die Ausführung oblag dann jeweils den Kollegen, mal mit und mal ohne aktive Teilnahme des Choreographen.
Vor allem der erste Teil des abendfüllenden Programms überzeugte wegen seiner Vielfalt und markanten Produktionen. Hier erzählte fast jede Choreographie eine kleine Geschichte oder setzte eine vorgegebene Musik kongenial in tänzerische Bewegungen um. Das begann gleich mit James Nix´ Produktion über Franz Schuberts „Impromptu D899“, das erst ein, dann zwei Paare zu tänzerischem Leben erweckten. Die emotionale Struktur dieses kurzen Klavierstücks spiegelte sich – auch dank kreativer Lichtregie – überzeugend in den Figuren wider. In Ezra Houbens „Hard to remember“ gibt sich eine junge Frau unter einem Lampenschirm ihren Erinnerungen hin, die hinter einem Gazevorhang in Gestalt halb verschwommener Tanzfiguren Gestalt annehmen. Später öffnet sich der Vorhang des Vergessens und die junge Frau stellt sich aktiv ihrer Vergangenheit, in dem sie mit deren Gestalten tanzt.
Unbestrittener Höhepunkt des ersten Teils ist die Choreographie „Handel this“, bei der zu der Musik von Georg Friedrich Händel ein einsamer Tänzer vor einer wechselnd beleuchteten Rückwand eine Parodie auf die gezierte Art des Tanzes der Barockzeit präsentiert. Anfangs gravitätisch mit Perücke und Gehrock, später eher als karikierender Pierrot, gewinnt Gaetano Vestris Terrano als Tänzer seiner eigenen Choreographie schnell die Herzen der Zuschauer und lässt auch den Humor nicht zu kurz kommen, wenn er das berühmte Largo aus Händels „Xerses“ zum Gesang der „Nicht-Sängerin“ Florence Foster Jenkins (oder einer Doppelgängerin) tanzt. Auch Johann Sebastian Bachgs Aria aus den Goldbergvariationen findet in der Choreographie von Masayoshi Katori eine überzeugende tänzerische Spiegelung durch Kristin Bjerkestrand und Ezra Houben, während die Produktion“Fidgets“ von Livia Gill – wenn auch tänzerisch durchaus lebhaft – choreographisch etwas zu sehr in der fast statisch anmutenden „Weltall“-Musik verharrt. Die Choreographie „Geborgte Zeit, gelebtes Leben“ wiederum wirkt symbolisch überladen und tänzerisch sehr sparsam.
Der zweite Teil litt ein wenig unter Gleichförmigkeit. Fast alle Choreographien bis auf die erste bevorzugten moderne Musik aus dem Techno-Dunstkreis und betonten den Gruppentanz. Das erste „This is not a poem“ von Miyuko Shimizu“ brachte außer einigen durchaus gekonnten Verrenkungen um einen Tisch herum zum „River Kwai March“ keine originellen Einfälle, während „Love Radioactive“ nicht nur unter dem lauten und bewusst gestörten Radiosound („radio active“) litt sondern mit den futuristisch anmutenden Kostümen die zweite Bedeutung des Wortes „radioactive“ etwas sehr plakativ in den Vordergrund rückte. Das heftig streitende Paar in Clémentine Herveux´ „Tell me who I am“ brachte dagegen die Psychologie der Zweierbeziehung mit heftigen musikalischen Herzschlägen und damit eine Geschichte auf die Bühne, während die beiden Produktionen „I see you over there“ (Pablo Girolani) und „No One“ (Ludmila Komkova) außer temperamentvollen Tanzfiguren keine klaren Aussagen übermittelten. Erst die letzte Produktion, „Faint Rites“ von Alexander Cyr, sorgte mit der archaischen Musik von Alex Young und den geradezu ostinaten Tanzfiguren wieder für choreographische Spannung und erinnerte in seiner rituellen Kompromisslosigkeit ein wenig an Strawinskys „Sacre du Printemps“.
Abgesehen von einigen kleineren Längen und Unausgewogenheiten lässt sich sagen, dass dieser Abend nicht nur viel über die hohe tänzerische Qualität, sondern auch über die choreographischen Fähigkeiten des Ensembles aussagte. Und den kräftigen und lang anhaltenden Beifall des Premierenpublikums nahmen die Choreographen und Ausführenden ebenso zu Recht entgegen wie die Blumen und Küsschen von Ballettdirektor Tim Plegge.
Frank Raudszus
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