Mit „Eugen Onegin“ hat Tschaikowsky dem gleichnamigen Versroman seines großen russischen Künstlerkollegen Alexander Puschkin vertont. Dieser hatte in dem Roman die gesellschaftlichen Verhältnisse im zaristischen Russland des frühen 19. Jahrhunderts durchaus kritisch dargestellt. Das Staatstheater Wiesbaden hatte diese Oper bereits vor dreizehn Jahren inszeniert, und kam jetzt mit einer neuen Inszenierung nach Darmstadt.
Der noch junge und begüterte Eugen Onegin ist aus Langeweile und Überdruss aus St. Petersburg aufs Land gezogen und frönt dort dem höheren Nichtstun. Dabei lernt er den jungen Lenski kennen, der für Poesie schwärmt, sich selber für einen Dichter hält und mit Olga, der Tochter einer verarmten Witwe, verlobt ist. Als Lenski Onegin dort einführt, verliebt sich Olgas Schwester Tatjana unsterblich in den selbstsicheren, weltgewandten Onegin und gesteht ihm diese von ihr als schicksalhaft empfundene Liebe in einem Brief. Onegin hält das für Schwärmerei und weist sie mit freundlichen, jedoch inhaltlich verletzenden Worten ab. Später rächt sich Onegin für eine aus seiner Sicht unzumutbare Behandlung durch Lenski, indem er bei einem Fest mit Olga flirtet, ohne daran zu denken, wie dies auf Tatjana wirken könnte. Der schnell gekränkte Lenski fordert ihn zu einem Duell und stirbt dabei. Onegin verlässt die Provinz und versucht, sein schlechtes Gewissen durch ausgedehnte Reisen abzutöten. Als er nach Jahren zurückkehrt, trifft er Tatjana zufällig als weltgewandte und strahlende Ehefrau eines bedeutenden Generals wieder. Nun erwacht seine Liebe, wohl auch als Variante verletzter Eitelkeit, doch Tatjana widersteht seinem Werben weist ihn mit dem Verweis auf ihr Treueversprechen bei ihrer Heirat ab.
Soweit Puschkin, der den Stoff zu einem psychologisch und gesellschaftlich fein gesponnenes Drama verarbeitet hat. Tschaikowsky jedoch hat sich für seine Oper auf das Handlungsgerüst des Romans beschränkt und benutzt dieses für eine Art anspruchsvoller Nummernrevue. Onegin wird ohne weitere Charakterschilderung eingeführt, und Tatjana verliebt sich umgehend in ihn. Auch der Liebesbrief folgt fast ohne weitere Entwicklung, so dass Onegins Reaktion – in erster Linie Überraschung – durchaus verständlich erscheint. Da auch die Beziehung zwischen Onegin und Lenski nicht weiter vertieft wird, erscheinen der Streit und das Duell als seltsam aufgesetzt und ohne jegliche Beziehung zur sonstigen Handlung. Die zeitliche Zäsur danach – schon im Roman ein eher fragwürdiger Kunstgriff – verstärkt den Eindruck fehlenden Zusammenhangs des Librettos, und so wirken sowohl die im Schnelldurchgang ausbrechende Liebe Onegins zu Tatjana und deren verständliche Reaktion wie der mühsame Versuch, der Handlung einen irgendwie gearteten Abschluss zu geben. Was sich bei Puschkin dank der epischen Form aus den Charakteren und deren Beziehungen zueinander nachvollziehbar entwickelt, wirkt bei Tschaikowsky wie das minimale Gerüst eines musikalischen Programms.
Doch in der Oper spielt das Libretto eine untergeordnete und die Musik die wichtigste Rolle, und so können eine in sich stimmige Musik und gute Stimmen ein schwaches Libretto mehr als retten. In dieser Inszenierung der Oper trifft beides zu. Tschaikowskys Musik weist eine eigene Qualität auf, die nicht nur geprägt ist von der Hochromantik des späten 19. Jahrhunderts sondern auch von der russischen Volksmusik und Mentalität. Eine raffinierte Instrumentalisierung mit mal schillernden, mal rauschenden Klangräumen macht Tschaikowskys Musik auf ihre Art einzigartig. Ihm ging es um die Befindlichkeiten einzelner Figuren, wobei die psychologische Entstehung dieser Befindlichkeiten ihn weniger interessierte. Ein Anlass muss für die Musik reichen.
In Wiesbaden hat Vasily Barkhatov die Oper ganz im Rahmen der Handlung und ohne plakative Aktualisierung inszeniert. Dazu hat Zinovy Margolin eine Bühne entworfen, die den Innenraum eines rustikalen russischen Gutshauses wiedergibt. Graue Holzbretter beherrschen die Bühne auf der ganzen Breite. Dahinter öffnet sich die Rückwand von Zeit zu Zeit, um eine von links oben nach rechts unten verlaufende Rampe zu zeigen, die symbolisch für den Wunsch der Gutsbewohner steht, der ländlichen Tristesse „nach oben“ zu entfliehen. Folgerichtig steigt Onegin auf dieser Rampe zu den beiden Schwestern hinab, und bei dem winterlichen Fest dient sie obendrein als Schlittenbahn. Im dritten Akt wird aus dem ländlichen Gut ein Zentralbahnhof mit großer Uhr als Symbol der Vergänglichkeit, unter derem unerbittlich voranschreitendem Zeiger Onegin sein erotisches Waterloo erlebt. Die Kostüme von Olga Shaismelashvili verweisen eher auf eine heutige Umgebung, jedoch ohne jegliche politische oder gesellschaftliche Symbolik. Sie verleihen dem Stück eine eher zeitlose Atmosphäre.
Die Personenregie kann man guten Gewissens als schlank bezeichnen. Vasily Barkhatov verzichtet auf jegliche aufgesetzte Charakterisierung und vertraut ganz auf die vorgegebenen psychologischen Gegebenheiten. Christopher Bolduc ist ein smarter junger Mann, der sich im Kreis der ländlichen Gutsbesitzer souverän bewegt, es fehlt ihm jedoch der Stich ins Arrogant-Gelangweilte, die ihm die Romanvorlage vorschreibt. Dadurch gerät diese Rolle in den ersten beiden Akten eine Spur zu positiv, ja geradezu sympathisch. Aaron Cawley spielt dagegen den Lenski als gestandenen, ausgeglichenen Mann, der so gar nichts von der schwärmerisch-naiven Ader der Puschkinschen Vorlage hat. Mit seiner stattlichen Größe und seinem ausgewogenen Spiel wirkt Cawley nicht wie ein unausgeglichener junger Schwärmer. Dadurch wirkt dann leider auch seine bis zum Duell führende Eifersucht nicht besonders glaubwürdig. Das liegt jedoch teilweise an der äußeren Statur und der Physiognomie der Sänger, die man sich nicht immer nach der charakterlichen Vorgabe des Librettos aussuchen kann. Stimmlich sind sowohl Bolduc als auch Cawley außerordentlich präsent, und sie können ihre Stimme auch der jeweiligen Situation sehr variabel anpassen. Dagegen fällt Wolf Mathias Friedrich als Fürst Gremlin deutlich aus dem Rahmen der Romanhandlung heraus. Statt eines älteren – will heißen: unscheinbaren – General gibt er einen außerordentlich präsenten und weltläufigen Fürsten, der sich allen Situationen gewachsen zeigt und in seinem Auftritt im letzten Akt Christopher Bolduc buchstäblich an die Wand spielt und singt. Kurzfristig wird er, die Nebenfigur, zur Hauptperson auf der Bühne.
Die beiden Frauen glänzen durch stimmliche und darstellerische Leistungen, Silvia Hauer etwas mehr schauspielerisch als lebenslustige Olga und Asmik Grigorian als scheue und introvertierte Tatjana. Die Solo-Auftritte letzterer sind Höhepunkte des Abends, und am Ende schafft sie auch spielend die Wendung zur selbstsicheren und selbstbewussten Frau, die einen Mann nach allen Regeln der Kunst freundlich aber bestimmt abweist. In weiteren Rollen treten Anna Maria Dur als alte Filipjewna und Romina Boscolo als Olgas und Tatjanas Mutter Larina auf. Erik Biegel, Leonid Firstov und Jochen Elbert spielen weitere Nebenfiguren.
Hervorzuheben ist der Chor des Staatstheaters Wiesbaden, der in vielfältiger Kostümierung und Erscheinungsform mal als Volk und mal als feine Gesellschaft auftritt und dabei stets für Abwechslung und Bewegung auf der Bühne sorgt. Stimmlich absolut sicher und präsent, prägt er die Inszenierung entscheidend mit. Das ebenfalls aus Wiesbaden angereiste Orchester präsentiert Tschaikowskys Musik mit gewohnter Souveränität und lässt den berühmten Walzer förmlich blitzen und funkeln.
Das Publikum im leider nicht ausverkauften Haus – es war ein sehr warmer Sommerabend mitten in der Woche – spendete allen Akteuren kräftigen Beifall, und der Darmstädter Intendant Karsten Wiegand verteilte höchstpersönlich Blumen an die Mitwirkenden.
Frank Raudszus
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