Wenn man dieser Tage über ein Konzert in der Hamburger Elbphilharmonie berichtet, kommt man an nicht-musikalischen Bemerkungen nicht vorbei. Wer sich als Rezensent hier ganz auf die musikalische Interpretation beschränken wollte, würde die Bedeutung des Augenblicks schnöde ignorieren. Zu beeindruckend sind Architektur und Atmosphäre dieses nach so vielen Querelen und Skandalen endlich fertiggestellten Gebäudes.
Man sollte bei dem ersten Konzertbesuch unbedingt einen Rundgang durch und um die „Plaza“ im 8. Stock einlegen, wenn man das – zum Beispiel als Hamburger – nicht sowieso schon getan hat. Der weite Blick über Stadt und Hafen und der Eindruck der verglasten Plaza lohnen die Anfahrt und lassen auch den kalten Märzwind in dieser luftigen Höhe milde wirken.
Der Weg in den großen Konzertsaal führt über helle Holztreppen zwischen weiten, weiß gestrichenen Wänden auf eine der fünf Ebenen von 12 bis 16. Dann betritt man den Saal und fühlt sich im ersten Augenblick ein wenig wie in einer Kathedrale, nur dass es hier wärmer und freundlicher ist. Die Konzertbühne nimmt den zentralen Platz auf Ebene 12 ein, und die Sitzgruppen ordnen sich rinsgum in lockerer Verteilung über fünf Ebenen an, die über ein kunstvolles Treppensystem sowohl von innen als auch von außen zu erreichen sind. In seiner angedeuteten Asymmetrie und mit den leicht geschwungenen Linien erinnert der Saale bisweilen ein wenig an die Gebäude des Österreichers Friedensreich Hundertwasser, nur dass man die Farbigkeit hier auf das gebrochene Weiß der Wände, das helle Holz der Treppen und Böden sowie auf das Grau der Sitze beschränkt hat. In der Mitte der hohen Kuppel hängt eine Art Blütenständer in den Raum über der Konzertbühne hinein und sorgt für eine optimale Verteilung der aufsteigenden und umlaufenden Schallwellen. Die hellen Wände sind mit einer scheinbar regellos aufgebrochenen Oberfläche versehen, die den Schall vor Ort bricht und verhindert, dass er als Hall in den Raum zurückkehrt. Doch sind diese Oberflächenbrüche nicht zufällig sondern Ergebnis aufwändigster Berechnungen und wirken dennoch geradezu pflanzlich natürlich.
Doch genug der – hier notwendigen – Vorrede. Nachdem sich die erste Bewunderung des Raumes gelegt und in photographischen Aufnahmen niedergeschlagen hat, gilt es, den klanglichen Eindruck zu erleben. Was ist da besser als Musik, die in diesem Fall von der Bremer Kammerphilharmonie serviert wird? Der Dirigent und Komponist Matthias Pintscher gilt in der Branche als Multitalent, da er sich unter anderem auch noch als Kunstkenner und -sammler sowie als Conferencier und Weinkenner betätigt. Doch an diesem Abend erlebten wir ihn nur als Dirigenten.
Auf dem Programm dieses Abends standen Dvorak, Mendelssohn und – Matthias Pintscher. Von Antonin Dvorak erklang das selten gespielte Konzert für Klavier und Orchester in g-Moll mit dem Franzosen Pierre-Laurent Aimard am Flügel. Bereits die weitläufige Orchestereinleitung lässt die besondere Akustik dieses Saales buchstäblich spürbar werden. In dem bereits zu Beginn komplexen Orchesterpart ist jede einzelne Instrumentenstimme deutlich unterscheidbar, sobald sie sich über das „tutti“ erhebt. Dazu braucht der jeweilige Musiker nicht angestrengt laut zu spielen: er ist einfach zu hören. Mit dem Einsatz des Flügels verstärkt sich dieser Eindruck schlagartig zu einem bisher so nicht erlebten Hörerlebnis. Man fühlt sich in diesem großen und ausverkauften Saal plötzlich wie in einer privaten Soireé mit wenigen Musikern und ebenso wenig Zuhörern. Der Flügel scheint neben dem eigenen Sitz zu stehen – nie überlaut! -, und der Raum scheint zu einem privaten Musikzimmer zusammenzuschnurren. In unseren typischen, frontalen Konzertsälen mit der baulichen Trennung von Konzertbühne und Zuschauerraum kann sich diese kammermusikalische Atmosphäre nicht in auch nur vergleichbarem Maße entwickeln.
Dvoraks Klavierkonzert erinnert in seinen weiten Bögen streckenweise an sein Vorbild Brahms, doch das Hauptthema des ersten Satzes könnte in seiner tänzerischen Leichtigkeit auch von Mozart stammen. Die akkordischen Schwerpunkte und das enge Zusammenspiel mit dem Orchester, das hier eine Rolle weit über die einer bloßen Begleitung spielt, zeigen dann doch die Hochromantik als Entstehungszeitpunkt. Die Kadenz stellt wegen ihrer technischen Schwierigkeiten höchste Anforderungen an den Pianisten. Der zweite Satz zeigt die gesangliche Seite Dvoraks und führt den Pianisten in ein fast schon pathetisches Zwiegespräch mit dem Orchester. Im „attacca“-Modus geht dieser Satz direkt in den Finalsatz über, der bisweilen wieder an Brahms oder auch einmal an Chopin erinnert, ohne dass deshalb das Werk seine eigene Linie verlieren würde. Rhythmisch anspruchsvolle Akkordfolgen und Läufe prägen den Klavierpart.
Man mag ja heute die Pianisten wegen ihrer technischen Fähigkeiten gar nicht mehr explizit loben, weil die technische Beherrschung auch der schwierigsten Werke für international renommierte Pianisten mittlerweile eine Selbstverständlichkeit sind. Dennoch sollte man hin und wieder anmerken, dass diese Virtuosität nicht von selbst kommt, sondern neben hoher Begabung ein außerordentlich hohes Maß an Übung und Erfahrung erforrdert. Die Kunst liegt darin, die Schwierigkeiten mit einer solchen Selbstverständlichkeit zu beherrschen, dass sie den Eindruck angeborener Leichtigkeit vermitteln. Und das gelang Pierre-Laurent Aimard an diesem Abend, der sich mit Lust und Spaß am Spiel durch die Akkordketten und schnellen Läufe bewegte, als sei das Ganze nur ein Freizeitvergnügen. Auch in den dichtesten Momenten kam nicht der Eindruck von Anstrengung auf. Den pathetisch-sehnsüchtigen Gestus der Spätromantik brachte er ohne jegliche sentimentale Übertreibung zum Ausdruck.
Der Beifall des Publikums fiel derart stark aus, dass Aimard noch eine Zugabe spielte: ein modernes Stück für den „zweiten Finger der linken Hand“. Einzelne Töne und ihre bewusste Anbindung an die vorangehende und folgende Note spielen hier eine große Rolle, während Melodie und Harmonie im traditionellen Sinn keine Rolle spielen.
Das zweite Stück stammt von Matthias Pintscher selbst und trägt den Titel „Ex Nihilo“ – „Aus dem Nichts“. Laut Programmheft bildet Pintscher mit diesem Stück die Bilder des minimalistischen US-Malers Cy Twombly musikalisch nach. Aus dem Nichts entstehen zu Beginn feinste Klänge auf dem Kontrabass(!), dann folgen ebenso leise Klangandeutungen anderer Instrumente sowie klangfremde Geräusche, unterbrochen von langen Pausen. Langsam nimmt die Klangdichte zu, die einzelnen Klanggebilde werden ausgeprägter und länger, überlagern sich mit anderen und bilden Klangtürme, die dann wieder in sich zusammenbrechen, um neuen Kombinationen das Feld zu überlassen. Mit herkömmlicher Musik des Konzertsaals hat das nicht viel zu tun, erzeugt aber eine hohe Klangspannung, und gerade die Pausen zwischen den Klanggebilden lassen das Publikum gespannt auf den nächsten Einfall warten.
Die besondere Akustik der Elbphilharmonie kommt dieser Musik besonders entgegen, hört man doch noch den leisesten Ton, ohne dass er sich im Raum verliert. Auch und gerade diese Musik wirkte wie Kammermusik in privatem Rahmen, und das nicht nur auf den privilegierten Plätzen direkt vor dem Orchester.
Den Abschluss dieses sinfonischen Abends bildete Felix Mendelssohn-Bartholdys 3. Sinfonie, die „Schottische“. Mendelssohn hat in ihr die Eindrücke einer Reise ins rauhe Schottland verarbeitet, vor allem die stürmische Überfahrt im Segelschiff zu den Hebriden. Nach einem langsamen, fast elegischen Beginn steigert sich der erste Satz zu einer wilden Metapher auf die sturmumtoste See, und man ist fast froh, wenn dieser Satz im sicheren Hafen der Schlussakkord eAnker wirft. Im zweiten Satz fällt vor allem die Rolle der Klarinette auf. Der dritte Satz, ein „Adagio“, beginnt mit einem emphatischen Auftakt und ist von viel romantischem Pathos geprägt, bei dem Dirigent und Orchester vor allem ihre Musikalität ausleben können. Der Finalsatz schließlich bringt noch einmal Bewegung und Temperament. Hier fällt das intensive Zusammenspiel zwischen Klarinette und Fagott auf, das dem Satz das besondere Flair verleiht.
Die Bremer Kammerphilharmonie verlieh diesem Werk Farbe und Leben und brachte die für Mendelssohn typische Verhaftung sowohl in der Klassik als auch in der Frühromantik zum Ausdruck. Präzision in der Ausführung und Musikalität im musikalischen Ausdruck standen bei dieser Interpretation im Mittelpunkt. Dabei wurde die hohe Transparenz durch die einmalige Akustik der Elbphilharmonie noch entscheidend unterstützt. Jedes Instrument, das im Rahmen der Orchesterpartie zu einem kurzen Solo-Einsatz anhob, konnte sich mühelos in Szene setzen, ohne dafür die Lautstärke über Gebühr anzuheben. Kein die Feinheiten überdeckender Hall störte die einzelne Stimme und vermittelte dem Publikum den Eindruck, in einer kleinen Privatvorführung zu sitzen.
Darüber hinaus sind die ausgesprochen warmen und weichen Klangfarben des Orchesters und der einzelnen Instrumente hervorzuheben. Das dürfte auch daran liegen, das sich aufgrund der Akustik keine unbeabsichtigten Spitzen vor allem hoher Frequenzen aus unkontrollierten Reflektionen ergeben. Die Klänge der einzelnen Instrumente bahnen sich ihren Weg zu den Ohren der Zuhörer ohne jegliche akustische Störungen – von einzelnen Hustern weniger Besucher abgesehen. Aber die kann – leider! – auch die beste Akustik nicht unterdrücken.
Das Publikum zeigte sich beeindruckt und spendete derart begeisterten Beifall, dass Matthias Pintscher und das Orchester als Zugabe spontan den Finalsatz einer Beethoven-Sinfonie (die Erste?) spielten. Ein wahrhaft krönender und überraschender Abschluss eines denkwürdigen Konzertes.
Frank Raudszus
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