Ein Leben aus der Perspektive des Opfers

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Hans Falladas Roman „Wer einmal aus dem Blechnapf frisst“ beschreibt den unaufhaltsamen Niedergang des Willi Kufalt, der nach einer fünfjährigen Haftstrafe wegen Betrugs einen heiligen Eid schwört, künftig ein Leben in Recht und Ordnung zu führen. Er lehnt das Angebot des – bereits erfahrenen – Mithäftlings Batzke ab, mit ihm ein „todsicheres Ding zu drehen“, und zieht in ein kirchliches Heim für ehemalige Häftlinge, wo er jedoch gnadenlos ausgebeutet wird. Ein Ausflug in die Selbständigkeit endet desaströs, weil er gegen die Regeln einen Kredit aufgenommen hat. Dennoch verliert er seinen Glauben an eine gerechte Welt nicht, schafft es zum erfolreichen Akqisiteur für Zeitungsabonnements und geht sogar eine erfolgversprechende Beziehung zu einer jungen Frau ein. Doch als ihn die Polizei wegen seiner Vergangenheit verdächtigt, einer Kundin Geld gestohlen zu haben, verliert er Freundin und Arbeitsstelle. Obwohl sich der Fall schnell zu seinen Gunsten klärt, ist er als Vorbestrafter weder als Ehemann und Schwiegersohn noch als Angestellter einer „seriösen“ Firma tragbar. So beschließt er, mit seinem ehemaligen Kumpel einen Juwelierladen zu überfallen, wird aber betrogen und sinkt zum Schluss aus Verzweiflung noch tiefer in die Kriminalität.

Tilo Werner als Willi Kufalt

Falladas Roman spielt in der Weimarer Republik, deren Strafvollzug noch die autoritäre Mentalität der Kaiserzeit atmete und deren desolate soziale Verhältnisse auch „normale“ Bürger schnell mit dem Gesetz in Konflikt geraten lassen konnten. Daher thematisiert Fallada auch den Grund für den Gefängnisaufenthalt nicht aus einer Schuldsicht. Ihm geht es mehr um das „Danach“ und um die Reaktion der Gesellschaft auf einen vorbestraften Mitbürger. Die einzige logische Schwäche des Romans besteht darin, dass Kufalt zufällig und nur „entfernt“ in den Geldraub verwickelt wird. Es ist nicht so, dass die Behörden seine beruflichen und privaten Aktivitäten nach der Haftentlassung überprüfen und ihn denunzieren. Er hat die Chance, dass alles gut geht, aber wenn seine Vergangenheit bekannt wird, ist alles aus. Und das geschieht hier.

Für das Hamburger „Thalia-Theater“ hat Regisseur Luc Perceval zusammen mit Christina Bellingen eine eigene Bühnenfassung erarbeitet, die sich auf die wichtigsten Stationen des Romans konzentriert. In dieser Version nimmt Kufalt eine noch zentralere Rolle als im Roman ein. Dieser schildert durchaus auch das jeweilige Milieu mit einer gewissen Unabhängigkeit von der Person Kufalt, bei Luc Perceval steht dieser jedoch im wahrsten Sinne des Wortes permanent im Vordergrund. Bereits in der ersten Szene steht Willi Kufalt (Tilo Werner) allein an der Rampe und denkt laut über seine bevorstehende Entlassung aus dem Gefängnis nach, und diese Position an der Rampe wird er explizit und im übertragenen Sinne bis zum Schluss nicht verlassen.

Tilo Werner (r.) und Hendrik Lücke (l.)

Luc Percevals Kufalt sieht sich nicht in erster Linie als Opfer, das zu Unrecht gesessen hat. Er ist Pragmatiker, der sich trotz der widrigen Umstände einen gewissen Optimismus erhalten hat. Doch er sieht sich einer bedrohlichen Umwelt ausgesetzt und von dieser ausgegrenzt. Den Gefängnisdirektor und dessen Untergebenen empfindet er als groteske Figuren, die gesetzliche Vorschriften ignorieren und ihn wie ein rechtloses Stück Vieh behandeln. Perceval verdeutlicht dies dadurch, dass er die Figuren der Umwelt, vor allem die mit Macht über Kufalt, bewusst überzeichnet und als – in gewissem Sinne – nicht zurechnungsfähig darstellt. Da rollen der Direktor oder seine Adlaten laut dröhnend auf dem Bürostuhl an Kufalt vorbei und genießen ihre Macht über ihn mit höhnischem Gelächter. Der Anstaltspfarrer entpuppt sich als bigotter Heuchler, der in den Häftlingen in erster Linie gefallene Sünder sieht, die sich seiner „Re-Edukation“ zu unterwerfen haben. Die Selbstgerechtigkeit der „ordentlichen“ Bürger war zu der Zeit sicher noch ausgeprägter als heute, hat sich jedoch zweifellos nicht verflüchtigt. Doch aus der Sicht des Opfers, dem sie die ihm zustehenden Rechte schlicht verweigern, wirken sie wie groteske Monster, die sich an ihrer Machtausübung geradezu berauschen.

Tilo Werner und Ensemble

Das gilt auch für die Personen, die Kufalt gut behandeln, denn sie wissen ja nur nicht, dass er vorbestraft ist. So hält denn auch der ein oder andere – etwa sein Schwiegervater in spe – mit seiner deutlichen Meinung über Vorbestrafte nicht hinter dem Berg und lässt Kufalt ahnen, womit er im Fall einer Entlarvung rechnen muss. Daher wirken auch diese Figuren auf ihn wie gefährliche, unkalkulierbare Raubtiere, die nur darauf warten, dass er sich eine Blöße gibt. Kufalt ist bereits von der ersten Stunde seiner neuen Freiheit ausgegrenzt und hat keine Chance auf ein bürgerliches Leben, er will es sich nur nicht eingestehen. Doch die selbstgefälligen Heuchler um ihn herum lassen es ihn täglich spüren, auch wenn sie es – noch nicht – gezielt tun.

Auch auf die Frauen kann sich Kufalt nicht verlassen. Sie verfolgen entweder knallharte eigene Interessen – etwa als Prostituierte – oder suchen selbst einen sicheren Hafen wie Hildegard, die bereits ein uneheliches Kind versorgen muss und einen Ernährer benötigt.

Tilo Werner spielt den Willi Kufalt in bewusstem Gegensatz zu den ihn umgebenden Figuren als ernsthaften, lange Zeit um seine innere und äußere Kontrolle bemühten Menschen. Zeitweise kostet ihn das viel Überwindung, etwa wenn er auf die Gunst einer Frau verzichtet oder sich die dummen Sprüche seines alkoholseligen Chefredakteurs anhören muss, doch seinem Ziel eines bürgerlichen Lebens ohne Rechtsbruch bleibt er lange treu. Erst als diese Gesellschaft grotesker Heuchler ihn fallen lässt wie eine heiße Kartoffel, wird er aus anfangs tiefster Enttäuschung und dann kühler Überlegung zum gewöhnlichen Kriminellen. Doch auch da verleiht ihm Tilo Werner so etwas wie eine kontrollierte Zielstrebigkeit. Er weiß um seine Selbstausgrenzung aus der Gesellschaft, nimmt sie aber in Kauf, da er sich als ihr nie zugehörig erkannt hat. Dass er am Ende wieder im Gefängnis landen wird, ist ihm ziemlich schnell klar. Er aber sieht dies als seine Bestimmung in einer Welt, die einem Gestrauchelten keine zweite Chance gibt.

Den grotesken Charakter der Inszenierung steigert Perceval noch mit der Figur eines Bänkelsänkers (Hendrick Lücke), der in schwarzem Frack und Zylinder sentimentale Operettenlieder der zwanziger Jahre über Liebe, Herz und Schmerz und als „alter ego“ Willi Kufalts einerseits dessen geheimen Sehnsüchte artikuliert und sich andererseits über ihn lustig macht. Das führt dann bisweilen zu grotesken Situationen, wenn Henrick Lücke einen lautstarken Streit der Beteiligten mit seinem pseudo-optimistischen Operettengesang übertönt.

Der scharfe Kontrast zwischen dem bis zur Selbstaufgabe verzweifelt um seine Würde und Zukunft kämpfenden Kufalt und der selbstgerechten und empathielosen Gesellschaft vermittelt eine starke Aussage über das konkret Gesellschaftliche hinaus. Der Kampf des Individuums um seine Existenz gegen eine feindliche Umwelt trägt dabei fast transzendente Züge und lässt sich nicht mehr auf die Schilderung der Zustände in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts reduzieren.

Das Bühnenbild von Annette Kurz unterstützt diesen transzendenten Charakter durch äußerst sparsame Requisiten. Ein bühnenhoher, halb transparenter Vorhang mit einer Graphik, die einerseits an Zirkus, andererseits an ein Hamsterrad erinnert, bebildert die Szenerie nur sehr knapp. Auf diesem Vorhang zeichnen sich die Schatten der anderen Figuren in verschiedenen gestellten Situationen ab; vor allem aber ragt hier der Schatten des Operettensängers als Wunschgestalt wie auch als Drohung übermenschengroß hoch und verfolgt Willi Kufalt bis in seine Träume.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Armin Smailovic

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