Imre Kertész: „Der Betrachter“

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Der ungarische Schriftsteller Imre Kertéz kam 1929 als Sohn jüdischer Eltern zur Welt und wurde während des Krieges erst nach Auschwitz und dann nach Buchenwald deportiert, wo er im April 1945 befreit wurde. Anschließend lebte er bis zur Wende 1989 in Budapest, fühlte sich aber diesem Land nie zugehörig, da die Bevölkerung die Deportation der Juden weitgehend verdrängt oder gar unterstützt hatte. Unter dem Eindruck der weltpolitischen Wende und neuer Hoffnungen auch für seine schriftstellerische Wirkung begann er, ein Tagebuch zu führen. Die Eintragungen aus den Jahren 1991 bis 2001 sind der Gegenstand dieses Buches, das den treffenden Titel „Der Betrachter“ trägt.

Eine Rezension im herkömmlichen Sinne verbietet sich von selbst, weil hier kein literarisch geplantes und konstruiertes Werk mit einer in sich konsistenten Aussage vorliegt. Kertész hatte während dieser zehn Jahre sicher keinen Augenblick an eine Veröffentlichung dieser oft spontanen, auch privaten und sogar intimen Gedankengängen gedacht. Hier hat er sich eben diese Freiheiten genommen, die ihm in einem literarischen Werk nicht zur Verfügung stehen: ins „Unreine“ zu denken, sich klar zu werden über politische Ereignisse und Zustände, private Probleme und Selbstzweifel durch Niederschreiben zu verarbeiten.

Es ist eine alte Frage, ob man private Tagebücher bekannter Persönlichkeiten – seien es Künstler oder Politiker – posthum veröffentlichen sollte. Es spielt immer ein gewisser Voyeurismus mit hinein, vor allem, wenn es um private und intime Angelegenheiten geht. Die Öffentlichkeit ist gierig nach jedem privaten „Fetzen“ von Prominenten, und diese Gier macht auch vor dem Innenleben von Intellektuellen nicht Halt. Im Fall Kertész kann man die Entscheidung der Herausgeber jedoch nachvollziehen und akzeptieren, weil der Autor in seinen Eintragungen ein gewisses intellektuelles und intimes Niveau nie unterschreitet. Man hat bei der Lektüre das Gefühl, dass er sich selbst nicht nur als „Betrachter“ seiner Umwelt sondern auch als kontrollierende Instanz seines Tagebuchs sah, als wolle er sich bei jedem Eintrag versichern, dass man ihn bei Bedarf auch unverändert veröffentlichen könne.

Man muss sich Kertéz´ Lebensgeschichte vor Augen halten, um den unübersehbar depressiven Zug dieser Tagebuchnotizen zu verstehen. Bereits als Jugendlicher mit der Hölle von Auschwitz und Buchenwald konfrontiert, lebte er fortan unter diesem Trauma. Auschwitz wird denn auch zu einem Dreh- und Angelpunkt seines Tagebuchs, zwar nicht in ausführlichen Beschreibungen des KZ-Lebens aber als Topos für das unbeschreibbare Grauen der Moderne. Seine philosophischen, gesellschaftspolitischen oder psychologischen Gedankengängen führen ihn immer wieder zu dem Fluchtpunkt Auschwitz, mit dem der Traum einer vernünftigen Welt ein für alle Mal gestorben ist. Dazu kam die anschließende vierzigjährige Gefangenschaft in einem repressiven System, das ihm als jüdischem Schriftsteller weder Entfaltungsmöglichkeiten bot noch seine literarischen Werke würdigte.

Kertész fühlte sich ein Leben lang entweder verfolgt oder ausgegrenzt. Er wirft den Ungarn nicht nur die vollständige Verdrängung ihrer Mitschuld an den Judenverfolgungen vor – sie sahen sich nur als Opfer der Nazis -, sondern unterstellt ihnen auch einen eingefleischten Antisemitismus, den sie je nach politischer Situation mehr oder minder ungeniert ausleben konnten. Da auch die sozialistischen Staaten einen latenten Antisemitismus pflegten, konnten sich seine ungarischen Mitbürger aus seiner Sicht in diesem System recht gut einrichten. Inwieweit diese Ausgrenzung subjektiv empfunden oder objektiv vorhanden war, sei dahingestellt und ist nicht Gegenstand dieser Buchbesprechung. Kertész jedenfalls fühlte sich zumindest intellektuell ausgegrenzt und bewusst missachtet.

Eine solche Biographie muss auch den stärksten und ausgeglichensten Charakter schwer beschädigen, und die Tagebucheintragungen zeigen, wie stark Kertész auch nach der Wende noch an seinem Land litt. Zwar ging er nicht mit fliegenden Fahnen zum westlichen Kapitalismus über und betrachtete die ihm fremde Marktwirtschaft – auch und gerade im Literaturbetrieb! – mit sehr viel Skepsis, doch die große Akzeptanz gerade in Deutschland tat ihm sichtlich gut, auch wenn er dahinter die spezielle deutsche Geschichte vermutete.

Kertész äußert sich in seinen Tagebuchnotizen zu allen Lebensgebieten, so wie die Gedanken ihn gerade anflogen. Die Literatur und die Rolle des Literaten spielen dabei immer wieder eine zentrale Rolle, und er teilt nebenbei auch an Kollegen aus, so etwa an Thomas Mann, den er sehr kritisch sieht. Dann wieder denkt er über Wittgenstein und Nietzsche nach; es sind jedoch keine philosophischen Essays, sondern nur kurze Gedankenblitze und kritische Anmerkungen aphoristischen Charakters. Dann wieder bricht seine Liebe zur Musik durch, wobei er Schubert und Beethoven geradezu als Rettungsanker einer untergegangenen Welt beschwört und in dem ungarischen Komponisten György Ligeti einen guten Freund findet. Aktuelle Tagespolitik kommt in den Tagebuchnotizen selten vor, eher die durchgehenden Linien der nationalen und internationalen Politik.

Ein zentrales Thema sind seine menschlichen Beziehungen. Über vierzig Jahre lang lebte Kertész mit seiner Frau Albina zusammen, die 1995 an Krebs starb. Er begleitet in seinen Tagebuchnotizen ihren Sterbeprozess bis ins Detail und verfällt dabei depressiven Schüben der Selbstanklage wegen Liebesunfähigkeit. Das hohe Lied auf die teure Verstorbene verblasst jedoch ein wenig, wenn er bereits die Beerdigung und Trauerarbeit mit seiner späteren zweiten Ehefrau Magda bewältigt. Zu seiner schweren Erschütterung über den Tod seiner langjährigen Ehefrau will schon die Verheiratung mit Magda ein Jahr später nicht so recht passen, doch die ziemlich schnelle Eliminierung Albinas aus dem Tagebuch, verbunden mit Hymnen auf Magda, irritieren doch ein wenig. Aber das zeigt Kertész als Mensch mit Stärken und Schwächen, und dieses Tagebuch ist ein Abbild seines inneren Wesens. Er hat die Notizen für sich als Selbstvergewisserung geschrieben, nicht für potenzielle Leser oder gar Kritiker.

Dieses Buch gibt einen tiefen Einblick in das Seelenleben eines hoch intelligenten und wachen, aber vom Leben gezeichneten Intellektuellen und Literaten, der trotz seines persönlichen Schicksals nie die Hoffnung auf eine würdigere menschliche Gesellschaft aufgibt. Zwar schwärzt sich die Welt während seiner depressiven Schübe deutlich ein, doch dazwischen leuchtet immer wieder ein Hoffnungsschimmer auf, sei es aufgrund seiner zunehmenden literarischen Anerkennung, sei es durch die Liebe von Frauen.

Kertéz selbst gab sich Anfang der neunziger Jahre kein langes Leben mehr. Er starb aber erst im Jahre 2016 in Ungarn, wohin er nach langen Jahren in Berlin schwer krank zurückgekehrt war. Offensichtlich zog es ihn zum Schluss trotz aller Kritik an seiner Heimat wieder an seinen Geburtsort zurück.

Das Buch „Der Betrachter“ ist im Rowohlt-Verlag erschienen, umfasst 253 Seiten und kostet 19,95 Euro.

Frank Raudszus

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