Vor zehn Jahren verlegte Philipp Kochheim seine Darmstädter Inszenierung von Puccinis „Tosca“ in General Pinochets Chile der siebziger Jahre, damit ein politisches Zeichen setzend. Zehn Jahre später geht die Regisseurin Eva-Maria Höckmayr diesen Stoff ganz anders an. Ausgangspunkt ihrer Interpretation ist die Tatsache, dass Puccini seiner Hauptperson den Beruf einer Opernsängerin zuwies. Da die Handlung mehrere Male explizit darauf Bezug nimmt, darf man mehr als nur berufsspezifische Gedankenverengung dahinter vermuten. Eine Opernsängerin ist per se eine dramatische Person, zumindest in ihrem beruflichen Auftreten. Sie muss sich, um das Publikum zu überzeugen, in die jeweilige Rolle bis hin zur – temporären – Selbstaufgabe hineinversetzen und die Emotionen ihrer Rolle zu ihren eigenen werden lassen. Auf der anderen Seite bleibt die Tatsache bestehen, dass es sich bei Opernstoffen um Fiktionen handelt, die keine historischen Ereignisse und Menschen realitätsgetreu abbilden wollen – von wenigen Ausnahmen abgesehen. So bewegt sich der Künstler bzw. die Künstlerin stets auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Fiktion, wobei man letztere auch als Traum interpretieren kann. Shakespeare hat diese Erkenntnis aus einer anderen Perspektive mit der Feststellung „All the world´s a stage“ ausgedrückt.
Eva-Maria Höckmayr setzt diese Welt aus Traum und Realität dadurch ins Bild, dass sie die Hauptperson (Izabela Matula) nahezu durchweg auf der Bühne belässt, auch in Szenen ohne ihre Beteiligung. Wie ein Geist schwebt sie im blutigen Kleid in diesen anderen Szenen um die Darsteller und sucht nach einer Deutung des Geschehens. Gleich die erste Szene verweist dabei auf den Schluss, steht sie doch vor der blutenden Leiche Cavaradossis, den sie eben noch als Sterbenden umarmt hat. Man könnte es auch so deuten, dass die gesamte Handlung letztlich nur eine Rückschau auf die Ereignisse ist, die sich während ihres suizidalen Sprungs von der Engelsburg in ihrem Kopf abspielt. Eine andere Deutung – die Regisseurin lässt hier alle Möglichkeiten zu – sieht in Tosca die Opernsängerin, die in ihrem eigenen Leben plötzlich das erlebt, was sie in der Oper „Tosca“ gerade spielt. Tosca spielt „Tosca“ – sozusagen, wenn auch dieser selbstreferentielle Zirkulärgedanke historisch nicht möglich wäre, da die Opernhandlung hundert Jahre vor der Opernentstehung spielt. Aber welchen Stellenwert hat die historische Logik schon in der Oper?
Die Bühne von Julia Rösler unterstreicht diese „real-fiktionale“ Sicht der Welt. Auf der Rückwand und verschiedenen Seitenwänden erscheinen Projektionen des Petersdoms, die als Gesamtheit den Eindruck erzeugen, sich inmitten des Petersdoms zu befinden. Mitten in dieser Kulisse steht ein überdimensionaler Racheengel aus Pappmaché, wie er wohl Anfang des 20. Jahrhunderts noch als ernsthaft gemeinte Requisite auf der Bühne gestanden haben mag. Diese theatertypische Illusion unterläuft das Bühnenbild jedoch dadurch, dass die Stellwände deutlich als banale Holzkulissen zu erkennen sind. Der Zuschauer wird sozusagen in die Zwischenwelt zwischen Fiktion und Illusion hineingezogen und neigt mal zur Illusion – wenn die Handlung sich dramatisch zuspitzt – und mal zur Desillusionierung – wenn die Szenen wechseln und die Kirchenkulissen auf der Drehbühne kreisen. Zwar ist der Illusionscharakter der traditionellen Bühnenbilder längst ein alter Hut, und kein Zuschauer lässt sich naiv in die fiktionale Welt der Handlung hineinziehen, doch hier spielt die Regie ganz bewusst mit diesem illusionären Bühnenbild, um einerseits die Faszination, andererseits die Fiktionalität zu zeigen. Die Vielschichtigkeit fiktionaler und realer Ebenen betonen verschiedene Theatervorhänge, die sich von Zeit zu Zeit mal weiter hinten, mal weiter vorne absenken und den Bühnenraum kurzfristig zum Guckkasten reduzieren. Das dient einerseits dem Zweck, hinter diesen Vorhängen das Bühnenbild umzubauen, ohne dadurch die Handlung im Vordergrund zu stören, auf der anderen, wichtigeren Seite jedoch öffnen und schließen sich durch diese Vorhänge fiktionale Räume und schieben die Handlung von einer Ebene in die andere.
Die beeindruckende Abbildung des klerikalen Raums, der ganze Epochen hindurch das Leben der Menschen bestimmt, bricht im letzten Akt zusammen, wenn Toscas Lebenstraum zerstört ist und sie sich in einem ausweglosen Dilemma befindet. Vom Inneren des Petersdoms sind nur noch rudimentäre Reste geblieben, deren billige Kulissenrückwand dem Publikum ungeschminkt die Aufschrift „TOSCA-Schießwand“ zeigt. Trivialität contra Tragödie. Dazwischen, im zweiten Akt, sind alle illusionären Kulissen verschwunden, denn hier geht es nur noch um Macht, Mordlust, Gier und Geilheit. Auf der leeren, schwarzen Drehbühne kreist – je nach szenischem Bedarf – der gedeckte Tisch, an dem Scarpia die von ihm begehrte Tosca auf übelste Weise erpresst und sie ganz bewusst in das Dilemma steuert, aus dem sie sich nicht mehr befreien kann. Der Rest der Bühne liegt in tödlichem Dunkel, aus dem nur die Schreie des gefolterten Cavadarossi dringen. Vorne spielt sich das Zweipersonen-Drama ab, das mit Scarpias Tod endet.
Die gesamte Inszenierung steuert konsequent auf Cavadarossis entsetzten Schrei zu, wenn er erfährt, dass Tosca Angelottis Versteck verraten hat, um ihn zu retten. Die anschließende Auseinandersetzung zwischen ihm und Tosca ist dann nur noch der längere Nachhall dieser Katastrophe. Puccini hätte die Oper auch an dieser Stelle enden lassen können, denn jedem Zuschauer ist klar, dass Schergen wie Scarpia und seine Kumpanen nie zu ihren Gnadenerlassen stehen werden. Der letzte Akt mit dem optimistischen Aufbäumen des Paares aufgrund der angeblich inszenierten Erschießung sollte beim Publikum offensichtlich noch einmal die Hoffnung auf einen guten Ausgang wecken, nur um diese Hoffnung am Schluss dann um so endgültiger zu vernichten. Es fragt sich aber, ob damals das Publikum naiver war als heute und sich nicht längst – auch ohne Kenntnis der Handlung – über den wahren Ausgang im Klaren war. Doch da die Oper nicht unbedingt als Hort einer ausgeprägten Handlungslogik bekannt ist, kann man diesen Punkt getrost auf sich beruhen lassen. In der Oper geht es in erster Linie um die Musik, und da bietet der dritte Akt noch einmal Gelegenheiten zu dramatischen Momenten und großen Arien.
Für diese dichte und außerordentlich anspruchsvolle Inszenierung hat das Staatstheater für die Hauptrollen zwei Gäste engagiert: die polnische Sopranistin Izabela Matula als Tosca und den italo-belgischen Tenor Mickael Spadaccini als Cavaradossi. An ihrer Seite singt Krysztof Szumanski (Bariton) den Scarpia, womit das berühmte Personen-Dreieck dieser Oper geschlossen ist. Alle drei beeindrucken durch ihre Stimmkraft und Bühnenpräsenz. Izabela Matula fällt darüber hinaus noch die anstrengende Aufgabe zu, über die gesamte Aufführung Bühnenpräsenz zu zeigen, auch wenn sie an der eigentlichen Handlung nicht teilnimmt. Sie wandelt dann im Geist durch die Szenen und muss stets darauf achten, diese „Geisterdasein“ nicht in Lächerlichkeit abgleiten zu lassen. Sie meistert diese Aufgabe hervorragend, was sich darin zeigt, dass die Szenerie mit der blutbefleckten Frau im Publikum ein Gefühl der Bedrohung hervorruft, genau das Gefühl, das Tosca – als Künstlerin wie als handelnde und leidende Person – in dieser Inszenierung empfindet. In ihren Gesangsszenen läuft Izabela Matula dann zu großer stimmlicher Form auf. Mickael Spadaccini steht ihr in nichts nach und spielt sowohl den anfangs lebensfrohen und hilfsbereiten, später verzweifelten aber unbeugsamen Cavaradossi mit großer aber nie aufgesetzter Eindringlichkeit. Das unbedingte Temperament dieser Figur schlägt sich auch in der kraftvollen und voluminösen Stimme nieder. Krysztof Szumanskis Scarpia mit seinem eher kontrollierten, dem Sprechgesang nahen Part setzt einen Kontrast zu den beiden emphatischen und gefühlsbetonten Hauptrollen. Ihm gelingt es hervorragend, einen Hauch von Eiseskälte auf die Bühne zu bringen, und die Grausamkeit Scarpias zu verkörpern, ohne in Grimassen oder andere Bosheitsklischees zu verfallen. Zynisch-ruhig und sich seiner Überlegenheit bewusst, behandelt er seine Opfer wie Marionetten, die man skrupellos steuern und am Ende wegwerfen kann.
In den anderen Rollen kann sich nur noch David Pichlmaier als klerikaler Schließer der Kirche profilieren, was er mit viel servilem Witz tut. Ihm gelingt das Kunststück, aus dieser Rolle kurzfristig fast eine Hauptrolle zu machen, bis ihn Scarpia in die Kulissen schickt. Dort darf er schließlich noch einmal als Racheengel auftreten. Minseok Kim und Oleksandr Prytolyuk haben als Scarpias Schergen stimmarme Nebenrolle, und Nicolas Legoux tritt nur am Anfang kurz als der geflohene Angelotti auf.
Der Chor hat in dieser Oper nicht allzu viele Auftritte, ist aber dennoch um den Kinderchor erweitert worden, der als Messknaben in roten Gewändern einen guten Kontrast gegen die schwarz gekleideten Geheimpolizisten bildet. Bleibt die Musik aus dem Graben, wo GMD Will Humburg das Orchester des Staatstheaters leitet. Er betont den modernen Charakter von Puccinis Musik und zeigt in einigen Szenen sogar die Nähe zu Wagner auf. Die Musik intoniert die Kontraste der Handlung durch hohe Transparenz der Stimmen und weitgehenden Verzicht auf „schöne“ Melodien. Dabei gelingt Humburg das Kunststück, das Orchester als vollwertigen Partner der Sänger zu etablieren, ohne deren musikalischen Raum zu beschneiden. Auch bei den dramatischen Arien der Protagonisten verliert man keinen Augenblick lang das Orchester „aus den Ohren“. Bis zur letzten Note ist der Graben präsent und hellwach und präsentiert seine eigene, scharfzüngige Interpretation des Bühnengeschehens.
Das Publikum zeigte seine Dankbarkeit für diesen denkwürdigen Opernabend durch lang anhaltenden, mehr als kräftigen Beifall und ging am Schluss sogar zu stehenden Ovationen über.
Frank Raudszus
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