Was macht man als Regisseur, wenn man einerseits eine überdimensionierte (See-)Bühne und mehr als sechstausend Zuschauer zu „bespielen“ und andererseits ein psychologisches Drama zu inszenieren hat, dessen Höhepunkte in den zwischenmenschlichen Konflikten vor dem Hintergrund der elementaren Triebkräften Macht und Eros sich abspielen? Kann man die existentielle Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen – ein typisches „Kammerspiel“ – auf einer solch weiten Bühne überzeugend nachvollziehen? Jeder Regisseur wird hier seine Bedenken anmelden und sich letzten Endes ins Bühnenbild retten. Wie der Film kann man nämlich mit der „Totalen“ viele Einschränkungen wieder aufheben. Die Großartigkeit der Bilder hilft über die Defizite bei der Umsetzung psychologischer Details hinweg und gewinnt am Ende sogar einen eigenen Wert, der mit zunehmender Größe des Publikums dominiert. Am Ende gewinnt immer das Spektakel oder neudeutsch das „Event“.
So sind auch sommerliche Festspiele in ungewohnter und den Reiz steigernder Umgebung – sei es Verona oder Bregenz mit seinen mittlerweile schon Tradition gewordenen Festspiele – längst zu „Rennern“ geworden, und hier findet sich ein Publikum ein, dass nicht unbedingt zu den Abonnenten der Opernhäuser in der Wintersaison zählt. Natürlich kann man sich fragen, woher diese plötzliche Liebe zur Oper kommt, aber man kann dieses auch als ein nicht näher zu begründendes Phänomen betrachten und entsprechend darauf reagieren. In diesem Fall wird man den Umstand des meist schon in der Lokalität begründeten Spektakulären nutzen und dieses in der Inszenierung noch verstärken. Das bedeutet im Fall der Bregenzer Seebühne, die nun wahrlich einen großartigen Blick auf den Bodensee eröffnet, dass man das Bühnenbild in den Mittelpunkt der Inszenierung stellt, und das ist angesichts der erwähnten Randbedingungen durchaus legitim.
Regisseur Philipp Himmelmann hat daher in den Mittelpunkt seiner „Tosca“-Inszenierung das Auge gestellt: das Auge des Künstlers, der sein Modell erforscht, das Auge des Modells, das ihn inspiriert, das gnadenlose Auge des Gesetzes, das sich überall Einblick verschafft, und das erloschene, blutige Auge des gefolterten Künstlers. Der Bezug zum „Tosca“-Stoff ist eindeutig und unübersehbar: man muss ihn nicht mühsam konstruieren. So blickt denn auch ein riesiges Auge von der hoch aufragenden Bühnenrückwand auf das Geschehen und – ein weiteres ironisches Apercu – auf das Publikum. Dieses beobachtende Auge wird im Laufe der Bühnenhandlung zum Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, so dass man fast meinen möchte: „Big Brother is watching you!“ Und dieser Eindruck ist wohl auch beabsichtigt.
Der Maler Cavaradossi malt in einer Kirche an den Augen einer Madonnenfigur, als ein geflohener politischer Sträfling bei ihm Unterschlupf sucht. Noch während Cavaradossi dieses Problem zu lösen sucht, kommt seine eifersüchtige Freundin Tosca, die hinter den Augen des Frauenbildnisses eine Rivalin vermutet. Kaum sind Flüchtling und Freundin versorgt oder beruhigt, naht der Polizeichef Scarpia, der dem Flüchtling bis hierher gefolgt ist, sofort die erotischen Verhältnisse im Hause Cavaradossi/Tosca erkennt und die Eifersucht Toscas für sich zu nutzen versucht. Zwar gelingt es ihm, einen ersten Keil der Eifersucht zwischen die beiden zu treiben, aber das Versteck des Flüchtlings erfährt er von Tosca erst, als er Cavaradossi quasi vor ihren Ohren foltern lässt – grässliche Schreie aus dem „Off“. Tosca und dem todgeweihten Cavaradossi gewährt Scarpia freies Geleit, wenn Tosca mit ihm schläft, und befiehlt dementsprechend – scheinbar – eine simulierte Hinrichtung. Tosca ersticht den ihr verhassten Scarpia statt der Einlösung ihres erotischen Versprechens und glaubt – geradezu naiv – an die Einhaltung der Abmachung. Mit dem tatsächlichen Tod Cavaradossis konfrontiert bringt sie sich um.
Diese dramatische Handlung bringt Himmelmann vor der großartigen Kulisse seines eigenen Bühnenbilds auf die Bühne. Doch die Hauptrolle spielt hier weder Tosca (Karine Babajanyan) noch Cavaradossi (Brandon Jovanovich), sondern eindeutig das Bühnenbild. Die fraglos stimmlich hervorragenden Künstler verlieren sich geradezu vor der Kulisse, wobei sie zwecks effizienter Nutzung des Bühnenraumes meist mindestens zwanzig Meter voneinander entfernt postiert sind. Man stelle sich eine intime Auseinandersetzung zwischen zwei Menschen über diese Entfernung vor und wird sofort die Künstlichkeit des Arrangements begreifen. Doch das spielt bei einer solchen Inszenierung keine Rolle, da hier der Gesamteindruck des „Kulturevents“ die psychologische Deutung marginalisiert. Die großen Stimmen – in solch einer Umgebung natürlich elektronisch verstärkt – und die optische Sensation bilden die Eckpfeiler einer Festspiel-Inszenierung dieser Art. Man sollte dies jetzt jedoch nicht als beckmesserische Krittelei missverstehen. Festspiele dieses Zuschnitts können nicht anders agieren, der Kammerton ist ihnen nicht angemessen. Sie bringen große Opern einmal anders auf die Bühne, als das Abonnementspublikum in den Staats-, Landes- und Stadttheatern es gewohnt ist, und sie locken damit neue Publikumsschichten an, die vielleicht nach einem solchen „Event“ am sommerlichen Bodensee Geschmack an dem Genre Oper gewinnen und die Basis eines zukünftigen Abonnementspublikums bilden. Denn über eins müssen wir uns klar sein: eben dieses Publikum vergreist langsam aber sicher, zwar nicht so wie das der Kammerkonzerte, jedoch ebenfalls sichtlich. Also trägt jeder gewonnene Opernfreund zur Erhaltung dieser Musikgattung bei.
Himmelmann und sein Bühnenbildner Johannes Leiacker haben sich wahrhaftig viele spektakuläre Effekte einfallen lassen. So fährt Cavaradossi im Fensterputzer-Aufzug zu seiner Arbeitsstelle – und Scarpia kommt auf eben diesem Wege zurück. Das große Auge wechselt laufend seine Farbe, spiegelt als Videobilder die Folterer ins Publikum, sieht die tödlichen Instrumente auf des skrupellosen Chirurgen auf sich zukommen und füllt sich anschließend tropfenweise mit Blut. Später löst es sich aus seiner Verankerung und wird zur runden Spielstatt; ein mehrere Meter hohes Kreuz taucht aus dem Wasser des Bodensees vor der Bühne auf, um sich in einem ironisch-satirischen Zwischenspiel von klerikalen Chören anbeten zu lassen; am Ende fällt Cavaradossi-Darsteller Brandon Jovanovich tatsächlich als Leiche von der „Augenbühne“ aus fünf Metern Höhe in den Bodensee, und Tosca stürzt als Fotomontage mit wehendem roten Kleid in der Pupille des Auges in eine endlose Tiefe. Man sieht: an Effekten hat die Regie in dieser Inszenierung nicht gespart und damit die Anforderungen der Umgebung in vollem Umfang erfüllt.
Die Musik kommt wie üblich über Lautsprecher zum Publikum, da das Orchester unsichtbar unter der Bühne sitzt. Doch im Gegensatz zu früheren Jahren zeigen jetzt zwei übergroße Bildschirme links und rechts der Bühne abwechselnd das Orchester und den deutschen Übertitel. Wie sich die Sänger auf der Bühne mit dem Dirigenten synchronisieren, bleibt für das Publikum ein Geheimnis, aber jedenfalls klappt das Zusammenspiel hervorragend. Weder an dem Orchester noch an den Solisten auf der Bühne ist etwas auszusetzen, sieht man mal davon ab, dass die Zuhörer statt der originalen nur medial vermittelte Klänge hören. Doch auch das ist integraler Bestandteil und Voraussetzung einer kulturellen Großveranstaltung dieser Gattung. Wer Kunstmusik „live“ und authentisch erleben will, sollte Kammermusikabende besuchen, wer die große Geste und das dramatische Musikspektakel – und das sei hier nicht abwertend gemeint – liebt, für den ist die Bregenzer Seebühne gerade das Richtige.
Das Publikum zeigte sich zwar sehr angetan, aber die richtige Begeisterung kam angesichts eines kühlen und die ganze Zeit von schwarzen Wolkenfeldern geprägten Abends nicht auf. Das ist die andere Seite einer solchen Großveranstaltung: das Publikum lässt sich nicht in gleichem Maße auf das Bühnengeschehen verpflichten wie in einem klassischen, ablenkungsfreien Opernhaus, das man allein wegen der Musik und nicht wegen des Eventcharakters besucht. So hätten die Darsteller durchaus mehr Beifall verdient als sie von einem etwas unterkühlten und bereits an die unter Umständen noch länger dauernde Heimfahrt denkenden Publikum an diesem Abend erhielten. Aber daran sind sie wohl mittlerweile gewöhnt.
Frank Raudszus
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