Peter Pan, Nimmerland und die Fee Tinker Bell sind den meisten Menschen der älteren Generation noch gut aus alten, meist zerfledderten Comic-Heften bekannt. Da die heutigen Internet-Kinder ihre Inspirationen aus anderen, oftmals wesentlich grausameren Geschichten beziehen, ist es durchaus nachvollziehbar, dass ein Theater im wahrsten Sinne des Wortes „alte Geschichten“ wieder aktualisiert. Das Staatstheater Darmstadt hat in diesem Sinne das Märchen „Peter Pan“ des englischen Sonderlings James Matthew Barrie auf die Bühne gebracht, der selbst nie erwachsen werden wollte und sich buchstäblich in einem fiktiven Kinderland – „Nimmerland“ – versteckte.
Die Geschichte ist simpel und dennoch einprägsam: Peter Pan (Robert Lang), ein nie alternder Junge, fliegt nächtens in das Kinderzimmer der kleinen Wendy (Anabel Möbius) und nimmt sie mit ins Nimmerland, wo Kinder frei von Erwachsenen ihre Kindheit und Abenteuer genießen können. Außer einigen „verlorenen Kindern“ – Sinnbilder für die Vollwaisen und vernachlässigten Kinder des späten 19. Jahrhunderts – lebt dort jedoch auch der blutrünstige Seeräuber-Kapitän Hook (Hubert Schlemmer) mit seinem Matrosen Smee (Stefan Schuster). Hook hat vor niemandem Angst außer vor einem Krokodil, das einst seine von Peter Pan abgehackte Hand gefressen und seitdem Appetit auf seinen restlichen Körper hat. Sein Hass auf Peter Pan führt zu einem Kampf, bei dem Peter Pan schwer verletzt wird. Doch die Indianerin Tigerlilly rettet ihn mit einem Heilkraut, weil er sie aus Hooks Gefangenschaft befreit hat. Mit vielen Tricks bringen Peter Pan und seine Jungs Käptn Hook zur Raserei, wobei sie auch dessen Angst vor dem Krokodil nutzen. Am Ende landet Hook im Maul des Krokodils, und Peter Pan liefert Wendy und die „verlorenen Kinder“ bei Wendys Eltern ab, die die Kinder auf Wendys Drängen adoptieren. Peter Pan jedoch kehrt nach Nimmerland zurück, weil er sich nicht in eine bürgerliche Welt fügen will.
Regisseur Ulf Goerke hat die Geschichte als deftigen Spaß inszeniert, wohl wissend, dass man auch Kinder heute nicht mehr mit weich gespülten Märchen hinter dem Ofen vorlocken kann. Dazu hat Norbert Bellen eine variable und ganz auf die kindliche Phantasie zugeschnittene Bühnenwelt geschaffen. Im anfänglichen Kinderzimmer steht ein schiefes Bücherregal mit geheimnisvoll sich öffnenden Schubladen, und später – in Nimmerland – bevölkern große Tropengewächse die Bühne. Die verlorenen Kinder ziehen in einem malerischen Bauwagen auf die Bühne, und Käptn Hook steigt aus einem großen Piratenschiff, das sich als Kulisse im Hintergrund aus dem Bühnenhimmel absenkt.
Die Schauspieler – allen voran Hubert Schlemmer und Stefan Schuster als Piraten – genießen es geradezu, ihre Rollen deftig anzugehen. Hubert Schlemmer gibt den Käptn Hook als blutrünstigen Haudegen, der bei jeder Gelegenheit den Degen zieht und wüste Drohungen ausstößt, und Stefan Schuster folgt ihm in allem als wild schwadronierender Schmee. Robert Lang ist dagegen ein jungenhafter Schalk mit viel Empathie und Charme, der sich sofort Wendys Sympathie erwirbt. Carlos Prätorius, Florian Mania und Thomas Zimmer hauen als die „verlorenen Kinder“ kräftig auf die Pauke und sorgen für einige Lacher, und Gabriele Drechsel sorgt als Tigerlilly für indianisches Colorit. Die beiden Musiker im improvisierten Orchestergraben sorgen für die passende musikalische Untermalung.
Man sollte die Altersangabe „ab 5 Jahren“ allerdings ernst nehmen und vielleicht noch ein, zwei Jahre draufpacken, denn Regisseur Ulf Goercke lässt es durchaus mal „krachen“. So fällt Wendy alias Anabel Möbius – allerdings in Gestalt einer fast lebensechten Puppe – klatschend aus dem Bühnenhimmel auf die Bühnenbretter und bleibt „tot“ liegen, und Peter Pan wälzt sich nach dem Kampf mit Käptn Hook im Todeskampf am Boden. Der kleine Oskar (5) krallte sich da an Omas Arm fest und verarbeitete den Nachmittag in einem Bild. Und so manches andere kleine Kind wirkte bei diesen Szenen ein wenig verstört. Auch der aus dem Off erzählte Text ist sprachlich nicht unbedingt auf Kinder unter sechs Jahren zugeschnitten. Aber eine altersgerechte Sprache für die Zielgruppe von vier bis vierzehn Jahren wäre auch die Quadratur des Kreises.
Schulkinder haben an dieser Inszenierung ihre helle Freude, wie der kräftige Beifall – nicht nur von den Müttern und Vätern – deutlich zeigte.
Frank Raudszus
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