Peter Sloterdijk, Philosoph und führender deutscher Intellektueller, der sich aufgrund seiner Unabhängigkeit gegenüber philosophischen Schulen („Frankfurter Schule“!) viele fachliche Feinde gemacht hat, hat jetzt in vorgerücktem Alter einen Abstecher ins Lager der Romanschreiber unternommen. Wer aber glaubt, hier einen spät berufenen „Thomas Mann“- oder sogar „Goethe“-Verschnitt vor sich zu haben, irrt. Zwar erinnert Sloterdijks hintergründige Ironie entfernt an den wortgewaltigen Lübecker, und der vorliegende Roman weckt auch gewisse Assoziationen an die „Wahlverwandschaften“ des letzteren, doch das sind Randerscheinungen und sicherlich nicht bewusst im Sinne von Vorbildern eingebracht. Sloterdijks Roman ist in erster Linie ein philosophisches Buch, das scheinbar inkommensurable Themen im Rahmen einer losen Romanhandlung verhandelt. Dabei hebt Sloterdijks latent wirkender Humor unterschwellig den spekulativen und oftmals auch weltfremden Charakter aller Philosophie hervor.
Sloterdijk hat die Form eines Briefromans gewählt, seit Jahrhunderten eine beliebte literarische Form, die Subjektivität und Distanz gleichermaßen erlaubt. Er verwendet jedoch die heutige Form der „E-Mail“, damit der Moderne seine ironische Reverenz erweisend. Sein Personaltableau besteht aus einer „Kerntruppe“ von drei Männern und zwei Frauen, von denen einer den Namen Peer (sic!) Sloterdijk trägt und Professor in Karlsruhe ist. Die anderen Personen sind fiktive Gestalten, wie eine Google-Suche zweifelsfrei ergibt (wer heute nicht in Google auffindbar ist, den gibt es nicht). Sie sind weder an bekannte Persönlichkeiten – Philosophen, Künstler, Wissenschaftler – angelehnt noch als Portraits aus dem Bekanntenkreis des Autors zu interpretieren, da der Autor in solch einem Fall wohl juristische Konsequenzen befürchten müsste. Man darf annehmen, dass diese Personen archetypische Charaktere aus Sloterdijks Lebensumfeld darstellen. Sich selbst hat er durch das fehlende „t“ in seinem Vornamen lediglich symbolisch fiktionalisiert und gibt sich damit als Autor und gleichzeitig als realen „Anker“ in einer fiktiven Handlung zu erkennen. Dieser Ankercharakter soll offensichtlich auf die nicht-fiktionale Bedeutung des Themas verweisen und diesem eine entsprechende Gewichtung verleihen.
Gegenstand der Handlung ist ein geisteswissenschaftliches Forschungsprojekt, für das die fünf Protagonisten – Anthropologen, Ethnologen, Paläontologen und Künstler – bei einer Regierungsstelle, hinter der man unschwer die DFG erkennt, unter der Leitung Sloterdijks (natürlich!) Förderung beantragen. Bei diesem Projekt geht es um die Erforschung der weiblichen Sexualität unter evolutionären Gesichtspunkten. Dabei soll die Zeitspanne von nomadisierenden Gruppen in der afrikanischen Savanne mit eher zufälliger Begattung durch vorbeikommende „Männchen“ bis hin zur „luxurienden“ Sinnlichkeit der heutigen Frauen betrachtet werden. Die Untersuchungen sollen unter enger Einbeziehung der Schellingschen Naturphilosophie erfolgen.
Mit dem Hinweis auf Schelling ist Sloterdijk dann unmittelbar in seinem philosophischen Element und kann die entsprechenden Parallelen ziehen. Schelling hat der Natur einen eigenen Organismus unterstellt, der sowohl Körper als auch Geist aufweist. Das ermöglicht die Assoziation zum menschlichen Organismus, und in diesem thematischen Fall bietet sich die entsprechende Verkürzung des Begriffs „Organismus“ um zwei Buchstaben an, um zu dem Thema des Forschungsvorhaben zu kommen. Sloterdijk leistet sich diesen Kalauer zwar nicht, aber er schwingt sozusagen stets mit. Wenn er dieses Thema in einer philosophischen oder anthropologischen Abhandlung bearbeiten würde, würde er auf starke Widerstände einschlägiger Interessengruppen treffen. Feministinnen würden sich wahrscheinlich massiv gegen die (pseudo-)wissenschaftliche Untersuchung des weiblichen Höhepunkt aus männlicher Feder wehren, und alle Jünger der politischen Korrektheit würden in das Geheul über die chauvinistische Übergriffigkeit einstimmen. Durch die Einbettung in eine Romanhandlung entgeht Sloterdijk in erster Näherung diesem zu erwartenden Shitstorm.
Die Handlung entbehrt wegen der Briefform denn auch jeglicher Plakativität, wie sie eine typische Dialogform oder auch eine epische Erzählweise erzeugt. Die Korrespondenten berichten weitgehend im Imperfekt über stattgefundene Gespräche oder Treffen und knüpfen daran eigene Überlegungen und Erfahrungen. So erfährt man im Laufe der regen Mail-Korrespondenz viel von den Lebensgeschichten der einzelnen Protagonisten, die sich teilweise schon lange kennen. Dabei kommen dann sowohl politische als auch berufliche, aber auch erotische und – handfeste – sexuelle Erlebnisse bis hin zur Pornographie zur Sprache. Und während die Beteiligten mehr oder minder begeistert ihre Gedanken zum Thema in verschiedensten Versionen austauschen, schlägt die Erotik mitten unter ihnen ein, sozusagen als handfeste Variation eines abgehobenen geisteswissenschaftlichen Themas. Dies ist ein typisches Beispiel dafür, wie Sloterdijk die eigenen (und auch fremde) Gedankenflüge über die leise Ironie immer wieder aus der dünnen Höhenluft der Geistesflüge auf den Boden der menschlichen Tatsachen zurückholt. Man könnte fast glauben, er wolle damit sagen: „Sexualität heißt nicht darüber zu sprechen sondern sie zu treiben“!
Dass der Forschungsantrag in Bonn großer Skepsis begegnet, liegt angesichts der bürokratischen Struktur des deutschen Wissenschaftsbetriebs und dessen Angst vor der Reaktion der Öffentlichkeit auf ein (gender)politisch so brisantes Projekt auf der Hand. Die Ablehnung spielt jedoch für den Fortgang der Handlung keine Rolle, sondern bildet lediglich deren logisches Ende. Der Schwerpunkt dieses Buchs liegt auf den philosophischen Zusammenhängen zwischen der Naturphilosophie Schellings und der weiblichen Sexualität. Die Protokollantin eines Treffens der Gruppe schreibt diesen zentralen Exkurs einem ausgedehnten „Parlando“ des Mitglieds Sloterdijk zu, das dieser als Abschweifung vom Thema und in deutlicher Überziehung seiner Zeit während des Treffens gehalten habe. Hier zeigt sich die Selbstironie des Autors, der den zentralen Punkt seiner philosophischen Abhandlung erzählerisch relativiert und fast schon ins Humoristische entrückt. Dennoch kommen hier die wichtigsten Überlegungen zum Ausdruck: einmal eine Übersicht und Deutung von Schellings Vorstellungen, andererseits die Assoziationen zur Weiblichkeit. Sloterdijk sieht die Evolution der Welt, wie wir sie kennen, als eine große Gebärmaschine von Neuerungen. Die Natur sei ständig mit sich unzufrieden, und das Leben sei nicht nur eine Flucht nach vorn, sondern vor allem eine Flucht nach oben. Dieser Kernsatz erinnert an Sloterdijks Buch „Du musst Dein Leben ändern“ über den Drang des Menschen (und damit der Natur) nach ständiger Selbstverbesserung. An anderer Stelle erwähnt er Schellings „namenloses Schreckliche in der Natur“, das wiederum an Slavoj Zizeks „Brutalität des Göttlichen“ erinnert.
Als ein transzendentales Aperçu lässt Sloterdijk noch den (im Jahr 2008 verstorbenen) Philosophen Nicolaus Sombart eine Mail aus dem Jenseits senden, der sich vehement für das Projekt einsetzt und über die Befindlichkeit der Verschiedenen und ihre Sicht auf die Welt der Lebenden berichtet. In seine Betrachtungen lässt Sloterdijk einige Betrachtungen zur gesellschaftlichen Realität einfließen, etwa über die großen Moralisierer unserer Zeit. Ihnen bescheinigt er den „Drang, zu den Guten zu gehören. Gut ist, wer anklagen darf, ohne anklagbar zu sein.“ Indem er diese und ähnliche Aussagen einem Bewohner des Jenseits in den Mund legt, umgeht er die unmittelbare Konfrontation mit Andersdenkenden, die diese Feststellung einer philosophischen oder soziologischen Abhandlung nicht durchgehen lassen würden.
Sloterdijks Buch liest sich so lehrreich wie unterhaltsam, streckenweise geradezu amüsant. Am – enigmatischen – Ende bleiben natürlich alle Fragen offen, und nur einige kryptische Zitate bleiben übrig, nachdem das Forschungsmitglied „P.“ frei nach Schiller „zu Schiff nach Frankreich“ abgereist ist.
Der Roman „Das Schelling-Projekt“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 250 Seiten und kostet 24,95 Euro.
Frank Raudszus
No comments yet.