Das „Hansa Varieté Theater“ in Hamburg zeigt internationale Ausnahmetalente
Dass etwas wahrlich alt und damit auch geschichtsträchtig ist, mag man intuitiv daran erkennen, dass es auf den ersten Blick aus der Zeit gefallen wirkt. Die Zeit bringt Wandel und so ändern sich vor allem Orte und ihr Publikum – echte Tradition bleibt aber an Ort und Stelle bestehen und trotzt dem Wandel mit stolzer Brust.
So erscheint es also nun, wenn man der S-Bahnstation des Hamburger Hauptbahnhofs entschwindet und in die frische Luft eines herbstlich kühlen und feuchten Samstagabends tritt. St. Georg begrüßt einen doch gar nicht so klassisch hanseatisch, wie man es vielleicht als Unwissender meinen möchte, sondern eher als der berühmte Schmelztiegel ferner Kulturen. Den Steindamm hinunter reiht sich ein orientalischer Laden an den anderen, und in den Schaufenstern glitzern das Publikum arabische Wasserpfeifen und anderes üppig Verziertes unter grellen Neonleuchtröhren an. Es folgen Spielhallen, Wettbüros, Leihhäuser und einige leicht bekleidete Damen, bevor sich plötzlich das prächtige Vordach des „Hansa Varieté Theaters“ als schützende Hand über den Bürgersteig zu lehnen scheint. Von Gold und Licht umhüllt schreitet man durch die vom Concierge in roter Uniform geöffnete Pforte, während dieser einen wunderschönen Abend wünscht und warmherzig lächelt. Im Nu fühlt man sich in die Golden Twenties nach New York zurückversetzt, auch wenn man sie nie erlebt hat. Man wird freundlich zur Garderobe seiner Sektion geleitet und schreitet dann bedächtig in den historischen Saal, der sanft zur Bühne hin abfällt. Kuschelige Zweierplätze schmiegen sich an den geschwungenen Barverlauf in den Reihen, womit jeder gefühlt ein wenig private Atmosphäre bei kleinen Köstlichkeiten genießen kann.
Das Hansa Theater wurde 1894 eröffnet, als es dem Standard entsprach, dass ein gehobenes Varieté ein gastronomisches Angebot bietet. Schon in den frühen Jahren seines Bestehens war es äußerst berühmt, da es internationale Stars wie Hans Albers und die Comedian Harmonists auf die Bühne brachte. Leider ging das Theater dann während des Krieges 1943 ebenfalls in Schutt und Asche unter. Im Nachgang des Krieges half sogar die burmesische Elefantenkuh Mary, im Trümmerdienst eine Wiedereröffnung 1945 möglich zu machen. Der damals neu errichtete Saal ist bis heute erhalten geblieben. Nach einer acht Jahre währenden Pause ist das Hansa Varieté Theater nun seit 2009 wieder bespielt. Im Zeitgeist moderner Medien war es nicht leicht, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, aber mit dem Fokus auf die überraschende und hautnahe Kleinkunst statt des heute spektakulär technisch Möglichen hat sich eine Nische finden lassen.
Begrüßt werden wir vor dem roten Vorhang an diesem Abend von Alfons, unserem Conférencier. Alfons ist gebürtiger Franzose, der aber schon viele Jahre seines Lebens im geliebten Hamburg lebt, wobei er sich den charmanten französischen Zungenschlag erhalten hat. Welcher Deutsche hört das nicht gerne, wobei er selbst, groteskerweise, stets den Anspruch hätte, jegliche Fremdsprache akzentfrei zu artikulieren. Nun denn – Alfons gefällt! Ganz besonders auch deshalb, weil er nicht nur die Künstler vorstellt und begrüßt, sondern auch eigene Geschichten aus seinem Leben und der Sichtweise als Franzose auf die deutsche Kultur näherbringt. So ist er zum einen als Romantikforscher auf einem Wochenmarkt unterwegs und entlockt den biederen Deutschen entzückend witzige Kommentare. Ein Dreh auf einem Schützenfest im Harz ist nicht minder amüsant – wir fühlen uns an Borat erinnert, der die amerikanischen „Traditionen“ und „frommen“ Bürger provokativ unter die Lupe genommen hatte. Alfons wagt sich aber mit besten Absichten auch in die Diskussion um Krieg und Frieden zwischen den Religionen. In diesen Zeiten mag dies doch zu erhöhter innerlicher Anspannung bei einigen Gästen führen, weil man hofft, nichts politisch Inkorrektes hören zu müssen, wo die internationale Lage doch so unglücklich verflochten ist, dass man ein solches Thema vielleicht besser vollständig ausblendet.
Wir freuen uns dann ganz besonders, wenn die zahlreichen Künstler völlig politikbefreit die Bühne betreten und zumeist pantomimisch mit ihren Künsten bespielen. Den Auftakt macht, anders könnte es in einem klassischen Varieté wohl kaum sein, die Kontorsionistin Svetlana Belova aus der Ukraine. Es mag sein, dass wir glauben, bereits alle Biegungsmöglichkeiten des menschlichen Körpers schon einmal gesehen zu haben – nun bekommen wir die Gelegenheit, das im Detail zu verifizieren. Das wahrhaft Spannende ist hierbei das Reale, nahezu Greifbare vor den Augen, sowie die fließende Ästhetik zwischen den Balanceakten, die zumeist ihren Höhepunkt auf der einhändigen Stütze des Körpers finden. Wenn man sich vorstellt, dass viele Gäste des Abends bereits bei dem berühmten Purzelbaum – wenn sie ihn denn überhaupt schaffen würden – einen Hexenschuss als Trophäe mitnehmen dürften, ist die Leistung dieser jungen Dame wirklich einen rauschenden Applaus wert.
Auf einhändige Balanceakte ist ebenso das russische „Duo Aliens“ spezialisiert. Man fragt sich gelegentlich, ob der eine Part des Duos ebenso kontinuierlich daran teil hat wie der oben auf seinem Kopf balancierende zweite. Oberer nutzt nämlich ausschließlich den Kopf und somit die starke Nackenmuskulatur seines Kompagnons aus – oder sagen wir: er vertraut darauf – um seine gymnastischen Übungen dort oben zu vollführen. Besonders beeindruckend ist hierbei wieder die gespielte Leichtigkeit, sowie das langsame Ausrichten der komplexen Choreographie aus dem Stand heraus und somit ohne Schwung. Dies mag einerseits überlebenswichtig für den zweiten Herren des Duos sein, bedingt aber eine immense Muskelkraft nicht nur bei dem Balancierenden. Man erkennt dies unter anderem an seiner Bauchmuskulatur – meine Herren: Halten Sie Ihre Damen nun gut fest! Und reichen Sie ihnen ein Schluck Wasser.
Eine diebische Elster zieht an jenem Abend auch ihre Runden durch das Publikum. Also achten Sie bitte ganz besonders auf Ihr Hab und Gut – wenn es Ihnen denn möglich erscheint. Charly Borra ist professioneller Dieb – leider mit einem zu guten Gewissen, um seinen Beruf tatsächlich professionell in großem Stil zu betreiben. Er fühlt sich stets verpflichtet, alles Erbeutete sogleich zurück zu geben. Während er auf der Suche nach Opfern durch das Publikum streift, entgleiten ersten Gästen bereits Armbanduhren, Portemonnaies und Handies – die Herren werden schließlich auf die Bühne geführt. Dort werden sie nach allen Regeln der Kunst des Diebestums professionell beraubt, ohne es wirklich zu bemerken. Sensationellster Akt – man möchte es kaum verraten – ist es, wenn es Charly Borra gelingt, einem Kandidaten sogar unbemerkt ein Kleidungsstück zu entwenden.
Ein wahrer Kleinkunst-Connaisseur ist Phillip Huber, der das Publikum mit seinem Puppenspiel verzaubert. Seine Marionetten tanzen, lachen, singen, vollführen gar Akrobatik und schaffen es auch noch, sich selbst Kleidungsstücke vom hölzernen Leib zu ziehen. Ein tollkühnes Schauspiel, das ebenso romantisch wie herzergreifend ist. Neben ihm und den benannten Künstlern warten weitere Zauberer, Seiltänzer und Jongleure darauf, das Publikum zu begeistern. Einige davon wechseln sich auch unter den Aufführungen miteinander ab. Es lohnt also wohl auch mehr als ein Besuch im „Das ist Hamburg“!
Ein großer Dank soll an dieser Stelle noch an die Hansa-Boys gehen, die mit Ihrer live-musikalischen Untermalung dem Abend und seinen Schauspielen eine besonders freudige und mitunter auch rockige Atmosphäre verliehen haben.
Malte Raudszus
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