Über Ereignisse lesen wir alle täglich in der Online- und Offline-Presse, wobei dort – leider – vorwiegend die spektakulären und eingängigen Varianten aufscheinen, die nach Zizeks Ansicht gar keine im eigentlichen Sinne sind. Ob sich ein Promi-Paar trennt oder ein Tsunami Tausende von Menschen dahinrafft: beides sind keine „umwälzenden“ Ereignisse, die vor der Geschichte als solche Bestand hätten. Slavoj Zizek geht es in diesem kleinen, jedoch anspruchsvollen Band darum, diesen Begriff systematisch zu analysieren und zu kategorisieren. Er tut dies in Gestalt einer gedachten Reise mit sechs Zwischenstopps, eine Idee, die in ihrer vermeintlichen Leichtigkeit wenig mit dem steinigen Weg zu tun hat, den der Leser gehen oder besser erklimmen muss, will er das Ziel erreichen.
Die erste Haltestelle betrifft die Weise, in der die Menschen Realität und damit auch beliebige Ereignisse wahrnehmen. Die Philosophie stellt die Frage nach dem jeweiligen Wahrnehmungs-Rahmen, während die Naturwissenschaft dem Wesen der Realität selbst auf die Spur zu kommen versucht. Zizek legt den Finger auf die Wunde der Philosophie, dass die Naturwissenschaft die Frage der Wahrnehmung – der „Rahmung“ – als nebensächlich beiseite schiebt und der „Wirklichkeit“ auf die Spur kommen will. In diesem Zusammenhang veweist Zizek detailliert auf das Kunstmedium Film, der die Realität vorwiegend als Hindernis zu Ziel – Stichwort „Happy Ende“ – behandelt.
Die zweite Station der Reise ist der Religion gewidmet, doch erreicht Zizek dieses Thema erst nach einem langen Umweg über Formfragen der Gattungseinteilung, des „Überschusses des Allgemeinen über seine Elemente“ sowie über gesprochene Sprache und Sprache „an sich“, die göttliche Sprache. Die menschliche Sprache ist demnach, weil verunreinigt, die „Schuld“ der göttlichen Sprache, womit er zum Schuldbegriff und schließlich zum Sündenfall kommt. Dieser sowie Christi Tod und Auferstehung sind typische Ereignisse. Und nur die christliche Religion, so Zizek, kennt das Ereignis als sinnstiftende Grundlage des Glaubens. Dass sich dabei Sündenfall und Kreuzestod in einem sehr spannungsgeladenen logischen Verhältnis zueinander befinden, ist eine weiterer brisanter Aspekt des Christentums. Daran schließt Zizek tief schürfende Überlegungen über den mythischen Grund des Sündenfalls sowie auf das Wesen des Bösen an. Demnach schafft der Sündenfall in einer Art logischen Zirkelschlusses erst die Situation, die ihn möglich machte. Der Mensch konnte erst nach dem Sündenfall sündigen, da er vorher Gut und Böse nicht kannte.
Der nächste Halt gilt formal dem Buddhismus, aber auch hier kommt Zizek erst nach längerem Umweg über Neurobiologie, Robotersoldaten und – prothesen sowie Sex-Hilfsmittel zu seinem eigentlichen Thema: Der Buddhismus setzt die Loslösung von materieller Realität als Ziel und bietet sich in einer „vulgären“ Variante sozusagen als Mittel an, vor dem rasanten Tempo der (technologischen) Veränderungen in ein inneres „Nirwana“ zu fliehen. Doch auch die ernsthafte Variante wirft aufgrund der komplexen Subjekt-Objekt-Beziehung verschiedene grundsätzliche Probleme auf, die das Ereignis der Erleuchtung zweifelhaft werden lassen. Zizek lässt sich hier detailliert auf diese mythische und mystische Problematik ein und kommt schließlich zu dem Schluss, dass die Aufgabe der Subjektivität in der Erleuchtung ein Irrweg sei.
An der vierten Station geht es um das Ereignis in der Philosophie. Zizek definiert Platons „Idee“ als ein Ereignis. Um das Niveau der Überlegungen anzudeuten, seien folgende Definitionen – ohne weitere Erklärung – angeführt: „Liebe ist Wahrheit und damit Ereignis; Ideen sind der kurze Schein auf der Oberfläche der Dinge; das Absolute (die Liebe) ist ein flüchtiges Reales; der moderne Mensch als posttraumatisches Subjekt hat seinen Tod überlebt“. Die Ableitung dieser Sätze würde den Rahmen dieser Rezension sprengen; sie wollen als Anregung zur Lektüre dienen.
Für Zizek haben bedeutende Ereignisse in der Philosophie zirkulären, selbstreferentiellen Charakter; das Endergebnis eines Ereignisses schafft erst dessen Voraussetzungen. In der Liebe wird daher aus Kontingenz Notwendigkeit, d.h. die Liebe ergibt sich nicht als Zufall, sondern zwangsläufig aus sich selbst. Zizek verdeutlicht dies an Hand eines Beispiels: ich liebe eine Person nicht wegen ihrer Eigenschaften – Augen, Lachen -, sondern ich schätze diese Eigenschaften, weil ich die Person liebe. Zizek erläutert nicht näher, wie dies logisch herzuleiten wäre, sondern setzt diese Behauptung als philosophische Erkenntnis, die sich aus sich selbst heraus erklärt. Zur Bestätigung dieser Erkenntnis zitiert er unter anderen T. S. Eliot und Kafka.
Von der Philosophie kommt Zizek zur Psychoanalyse und damit zu seinem Favoriten, Jacques Lacan. Die Ereignisse der Psychoanalyse sind laut Lacan „Das Imaginäre, das Symbolische und das Reale“. Das Imaginäre ist die Erscheinung bzw. die Erfahrung der Realität, das Symbolische ist die unsichtbare Ordnung, oder – wie Lacan es ausdrückt – „der große Andere“, und das Reale ist das Unmögliche, das nur in seinen Auswirkungen erfahrbar ist. Dieses Reale ist zum Beispiel die unmittelbare „göttliche Nähe“, die für den Menschen stets brutal und unerträglich ist.
Im sechsten Halt schließlich spricht Zizek über das „Ungeschehenmachen eines Ereignisses“. Als einführendes Beispiel führt er die Restauration nach 1815 an, mit der die europäischen Monarchien die Französische Revolution von 1789 ungeschehen machen wollten. Von dort kommt er fast nahtlos zu modernen Foltermethoden, deren Unmenschlichkeit durch angeblich neutrale Abbildung im Kunstwerk (hier: der Film) ungeschehen gemacht werden soll. Auch das zeitgenössische Ungarn kommt hier auf die Anklagebank, das versucht, die Errungenschaften offener, pluralistischer demokratischer Gesellschaften durch Rückgriff auf völkische und autoritäre Modelle auszulöschen. Dass er aber den nachträglichen Stolz indonesischer Todesschwadrone über ihre Massaker an Andersdenkenden ausdrücklich als Ergebnis des westlichen Kapitalismus definiert, überzeugt nicht. Erstens ist das Indonesien der letzten fünfzig Jahre kein originär kapitalistisches Land, und zweitens – und das wiegt wesentlich schwerer -, zieht sich eine Kette von freudig durchgeführten und nachträglich gefeierten Genoziden von der Antike (Seevölker in Kleinasien, Caesar in Gallien) über das Mittelalter (Dschingis Khans Pyramiden aus abgeschlagenen Köpfen, die Massaker der Kreuzzüge) bis in die Neuzeit (Spaniens Genozid an den Völkern Mittelamerikas, vor allem aber die Überzeugungstäter der SS im Dritten Reich). Und diese Spur des Terrors kann man schwerlich dem „westlichen“ Kapitalismus zuordnen.
Zizeks kleines Buch hat es im wahrsten Sinne des Wortes „in sich“. Er lässt kaum ein geistesgeschichtliches Thema aus und presst buchstäblich die gesamte abendländische und sogar asiatische (Buddhismus!) Geistes- und Wissenschaftsgeschichte in knapp zweihundert Seiten. In der ihm üblichen Weise arbeitet Zizek gerne in Paradoxien und dreht altbekannte Argumentationsmuster und Erkenntnisse in ihr Gegenteil (z. B.: die „Realität“ ist nicht das „Reale“ oder die zirkuläre Verwandlung des Ergebnisses in den Ausgangspunkt eines Ereignisses). Seine geschliffene Sprache und pointierte Argumentation täuschen dabei oft über die Tatsache hinweg, dass seine Behauptungen oft weniger durch handfeste logische Herleitung als durch eine feste ideologische Position gestützt werden. Vor allem eingefleischte Linke werden sich in vielen seiner Ausführungen bestätigt sehen und darauf verzichten, konsistente Beweise dafür einzufordern.
Dennoch ist dieses Buch als Beitrag zum aktuellen geisteswissenschaftlichen Diskurs unbedingt zur Lektüre zu empfehlen. Es ist im Verlag S. Fischer erschienen, umfasst 207 Seiten und kostet 12,99 Euro.
Frank Raudszus
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