Das Staatstheater Darmstadt zeigt eine frische Neuinszenierung von Goethes „Faust I“.
Goethes „Faust“ zu inszenieren dürfte für ein großes Theater eine der schwierigsten Aufgaben sein, denn bei keinem Stück ist die Erwartungshaltung des Publikums höher. Außerdem kennt jeder Theaterbesucher dieses „dramatische Nationalgut“ und hat genaue Vorstellungen darüber, wie es auf der Bühne umzusetzen sei. Alteingesessene Abonnementen schauen dabei meist auf eine Reihe mehr oder minder bekannter Aufführungen zurück, die sie sowieso für unübertreffbar halten. Ein Regisseur oder eine Regisseurin hat es da natürlich schwer, gegen eine solche Phalanx von Vorstellungen zu bestehen.
Inklusion als Herausforderung der Regie
Die Berliner Regisseurin Bettina Bruinier hat sich dieser Aufgabe am Staatstheater Darmstadt dennoch gestellt, denn schließlich will man das Stück ja nicht aus den oben erwähnten Gründen ein Schubladendasein fristen lassen. Sie hatte es dabei in Darmstadt mit einer zusätzlichen Herausforderung zu tun, denn dieses Theater verfolgt einen Inklusionsansatz, der auch behinderten Künstlern eine Chance gibt. In diesem Fall war der querschnittsgelähmte Samuel Koch zu berücksichtigen, der aus dem Rollstuhl heraus weitgehend auf sprachliche Präsenz reduziert ist. Bettina Bruinier hat dieses Problem mit einer Doppelbesetzung gelöst, bei der Samuel Koch und Christian Klischat die Titelrolle gemeinsam spielen, mal einzeln und getrennt, mal gemeinsam. Dabei steht der personelle Aspekt deutlich vor dem dramaturgischen, will sagen: die dramaturgische Wirkung ist nicht zwingend und alternativlos, kann sich jedoch aus dem Spiel entwickeln.
Um Samuel Koch nicht nur im Rollstuhl auftreten zu lassen, hat Bettina Bruinier eine bereits bewährte Methode wieder aufgegriffen, die bereits in der Inszenierung von Kafkas „Bericht für eine Akademie“ erfolgreich praktiziert wurde: Samuel Kochs ehemaliger Schauspielkollege Robert Lang schnallt sich seinen Freund vor den Körper und bildet sozusagen eine Art siamesischer Zwillinge mit ihm. Das ermöglicht Samuel Koch eine – wenn auch scheinbare – Beweglichkeit und liefert in diesem Fall auch noch eine dramaturgische Begründung. Denn Robert Lang spielt in der Hauptrolle den Mephisto, und eine engere Verbindung als zwischen Faust und Mephisto lässt sich kaum denken.
Metaphorisches Bühnenbild
Das Bühnenbild von Mareile Krettek folgt einem Ansatz puristischer Metaphern. Wenn sich der eiserne Vorhang hebt, sieht man Faust (Samuel Koch) inmitten eines Waldes mannshoher Eichenstümpfe, auf denen Mitglieder der Statisterie sitzen und im Wechsel mit den beiden Faust-Darstellern den Eingangsmonolog sprechen. Natürlich lassen sich diese Baumstümpfe als ironischer Verweis auf das „Urdeutsche“ dieses Stücks verstehen, und wenn Samuel Kochs „alter ego“ Christian Klischat diese Stümpfe nach gemeinsam getaner Monolog-Arbeit umwirft, dann ist die Botschaft der Regie unübersehbar. Alle weiteren Handlungsorte – Osterspaziergang, Hexenküche, Auerbachs Keller, Marthes Garten, Gretchens Stube, Walpurgisnacht, Kerker – werden auf einer weitgehend leeren Bühne durch das Spiel der Darsteller imaginiert. Lediglich Gretchens Stube wird metaphorisch aufgewertet durch einen Teppich unterschiedlich großer weißer Luftballons, die für die Träume und Sehnsüchte – nicht nur Gretchens! – stehen und im Laufe der Inszenierung symbolträchtig – wenn auch unabsichtlich – platzen. Markante Lichteffekte – etwa beim anfänglichen Monolog oder bei der abschließenden Kerkerszene, verleihen einzelnen Szenen besondere Bedeutung.
Musik als integraler Bestandteil
Schon Goethes Urtext bringt Musik auf die Bühne, so Gretchens Lied vom „König von Thule“, Valentins bitterböses Lied auf Gretchens Unmoral und Mephistos satirische Lieder zur Zither. Bettina Bruinier verzichtet auf diese Markenzeichen vieler „Faust“-Inszenierungen und setzt auf andere musikalische Effekte. Wichtige Monologe unterlegt sie mit elektronischer Musik wie im Film, wobei diese bei Gretchens Monolog fast den Text überdeckt. Katharina Susewind singt als Gretchen „Mein Ruh´ist hin“ dank einer ausgebildeten Stimme als Kunstlied zur eigenen Klavierbegleitung, wodurch die Inszenierung an dieser Stelle eine unerwartete Verdichtung der emotionalen Wirkung erfährt. Robert Lang wiederum widmet sich nach einem längeren Dialog mit Samuel Koch alias Faust einem rebellisch klingenden amerikanischen Pop-Song, den er aus dem von Koch gekaperten Rollstuhl vorträgt. Mit dieser „sachfremden“ Nutzung des Rollstuhls unterläuft die Regie den unausgesprochen im Raum hängenden Anspruch der „political correctness“ und lässt so die Inklusion des behinderten Darstellers zu einer Art komödiantischer Selbstverständlichkeit werden.
Ironische Brechung der Charaktere
Die Gefahr einer im Ernst des bürgerlichen Bildungskanons erstarrenden Inszenierung umgeht Bettina Bruinier auch durch eine unterschwellig ironischen Personenführung. Das bietet sich natürlich bei Mephisto geradezu an, da in dieser Figur der Zweifel und das kritische Hinterfragen aller vermeintlichen Gewissheiten verdichtet sind. Robert Langs Darstellung erinnert in vielem an die von Gustav Gründgens, obwohl wir hier keinen Vergleich zwischen diesen beiden Darstellern ziehen wollen. Doch auch Fausts die Welt erkennen wollendes Wesen trägt zumindest in der Interpretation von Christian Klischat gewisse ironische Züge. Seine empörte Ungeduld über mangelnde Erkenntnismöglichkeit und später über die zögerliche Befriedigung seiner Gelüste durch Mephisto kommt zwar vordergründig als authentisch daher, trägt jedoch gerade wegen seines fast kindlichen Insistierens auch ironische Züge. Bettina Bruinier will hier offensichtlich nicht devot Goethes Lebensweisheiten nachvollziehen sondern sie eher mit einer gewissen Distanz präsentieren. Damit vermeidet sie das einstimmige Kopfnicken zu den ultimativen Erkenntnissen des Großdichters Goethe. Es bleibt stets ein Fragezeichen wie ein Stachel im Fleisch zurück. Ähnliches gilt für Frau Martha, die – von Yana Robin la Baume gespielt – im hautengen, durchbrochenen Anzug als Lebedame erscheint und entsprechend offensiv selbst den Teufel umgarnt. Katharina Susewinds Gretchen dagegen tritt als Gegenentwurf im geradezu biederen Aufzug auf und setzt diese Interpretation auch in ihrem Spiel fort.
Magie und Irrationalität
Während manche Szenen gestrichen – Mephisto mit dem Schüler – oder stark verkürzt sind, hebt Bettina Bruinier besonders die magischen Szenen hervor. Den Prolog lässt sie von Mephisto alias Robert Lang aus der dritten Reihe des Parketts gen Bühnenhimmel richten. In Auerbachs Keller, der in vielen Inszenierungen der Schere zum Opfer fällt, geht es erst lustig, dann derb zu. Die Hexenküche, in der Mephisto Faust verjüngen lässt, präsentiert Bettina Bruinier als Lichtspiel mit Männern und Frauen in lasziven Hexenkostümen, und ähnlich geht es zu bei der Walpurgisnacht, die zu magischer Musik und wechselnder Beleuchtung einen allerdings ein wenig betulichen Hexentanz bietet. Hier könnte mehr Feuer und Aberwitz herrschen. Doch die Absicht der Regisseurin ist unübersehbar: sie möchte dieses Stück aus der Ecke der „letzten Fragen der Menschheit“ befreien und eher die diesseitigen Sehnsüchte und auch Ängste hervorheben. Offensichtlich steckt der Wunsch dahinter, eine eher jugendliche Inszenierung abzuliefern, um auch ein jüngeres Publikum ohne das beim typischen Abonnenten übliche bildungsbürgerliche Wissens- und Erfahrungspotential anzusprechen.
Die Darsteller gehen mit
Eine Inszenierung steht und fällt mit dem Engagement und Können der Darsteller. In diesem Fall liefert das Ensemble eine ansprechende Gesamtleistung ab. Samuel Koch bietet hier einen seiner besten Auftritte, auch wenn er bei einigen Goethe-Versen dem Gleichmaß des Versmaßes zum Opfer fällt. Sein Pendant, Christian Klischat, spielt Fausts expressive und exzessive Seite glaubwürdig aus. Man nimmt ihm den am Leben und der begrenzten Erkenntnis verzweifelnden Wissenschaftler ab, der noch einmal jung sein möchte. Doch bewahrt er dabei stets einen Rest innerer Distanz, eben die oben erwähnte Ironie. Das ist ein Balance-Akt, den er aber gut meistert. Robert Lang hat mit dem Mephisto eine Rolle gefunden, die ihm auf den Leib geschrieben zu sein scheint. Sein Mephisto ist ein wahrer Kenner des schwachen Menschengeschlechts, und Lang lässt auch Goethes Absicht durchschimmern, dem Teufel auch positive weil menschliche Eigenschaften zuzubilligen. Über weite Strecken beherrscht er die Bühne, wobei ihm natürlich die Anlage dieser Rolle hilft. Katharine Susewind gibt ein durch und durch ehrlich-naives Gretchen, das sich nach Liebe sehnt und allen wohl will. Ihr letzter Monolog ist bei aller untergründiger Ironie der Inszenierung ergreifend und ohne jegliche Doppeldeutigkeit. Yana Robin la Baume fühlt sich vor allem in der Rolle der Frau Martha wohl und geizt dabei nicht mit Witz und Temperament. Florian Federls spielt den Famulus Wagner sowie Gretchens Bruder Valentin ohne spektakuläre Umdeutungen, und die „Theaterwerkstatt für Erwachsene“ tritt in verschiedenen Szenen als Bürgerchor auf.
Das Premierenpublikum spendete allen Beteiligten kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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