Das Staatstheater Darmstadt zeigt zum Saisonbeginn Elfriede Jelineks Einakter „Wut“.
Elfriede Jelinek lässt sich in vielen Aspekten mit Thomas Bernhard vergleichen. Eine dank mütterlichen Ehrgeizes schwere Kindheit trotz gutbürgerlicher Herkunft, früher Anschluss an die kommunistische Bewegung und vehementer Protest gegen Österreichs selbstgerechte Verdrängung der Vergangenheit prägen ihre künstlerische Produktion, und einige Werke haben in verschiedenen Ländern sogar für Skandale gesorgt und zu Zensurversuchen geführt. In ihrem steten Bemühen, sich den jeweiligen gesellschaftlichen Zuständen zu stellen, reagierte sie oft als erste auf aktuelle Ereignisse. In „Wut“ waren das die Pariser Attentate vom Januar („Charlie Hebdo“) und November 2015, und nur wenige Monate nach den Terrorakten fand die Uraufführung dieses Stücks in Deutschland statt.
Wut ist kein Theaterstück im herkömmlichen Sinn. Hier treten keine wohl definierten Personen mit Namen und Charakter auf, die miteinander agieren, Konflikte heraufbeschwören und auf die ein oder andere Weise lösen. Hier artikulieren lediglich vier Personen mit- und nebeneinander die Befindlichkeiten vor allem der Terroristen. In einer zweistündigen Suada blättern diese vier Protagonisten die psychischen Positionen islamistischer Fundamentalisten auf, wobei die für Jelinek typische Wiederholung mit Variation eine zentrale Rolle spielt. Ja, erst durch das geradezu ostinate Kreisen um den Kern der in den Attentaten zum Ausdruck kommenden Wut wird diese in gewisser Weise erklärbar, wenn auch nicht verständlich. Elfriede Jelinek versucht mit diesen sich spiralförmig in das Innere der Attentäter hineinbohrenden Wortkaskaden, dem Wesen dieser Wut auf die Spur zu kommen.
Regisseur und Bühnenbildner Marcus Lobbes hat den offenen Bühnenraum der Kammerspiele durch einen Leinwandvorhang drastisch verkürzt und lässt nur einen etwa zwei Meter breiten Raum bis zur ersten Sitzreihe offen. Damit verdichtet er das Bühnengeschehen und drängt es dem Publikum buchstäblich auf. Die Zuschauer treten dicht ans Publikum heran, suchen den direkten Augenkontakt und sprechen ihre Texte zum Teil auch aus den Zuschauerreihen. Zu Beginn treten die vier Darsteller – Karin Klein, Matthias Snidarec, Maria Radomski und Jana Zöll – in loser Gruppierung vor die Leinwand und skandieren synchron und asynchron wie ein griechischer Chor einzelne Textteile, die keine zusammenhängende Erklärung oder gar Handlungselemente enthalten, sondern eher programmatischen Charakter haben. Diese ideologischen Versatzstücke und die schwarze Kleidung der Darsteller erinnern von ferne an die schwarz gekleideten IS-Mitglieder und deren Verlautbarungen, erlauben jedoch auch andere Zuordnungen. Lobbes erliegt hier nicht der Versuchung vorschneller Zuschreibungen. Wer genau zuhört, kann in den Textfragmenten auch die Argumente von Pegida und der AfD vernehmen. Die Wut liegt also nicht nur eindeutig bei den Terroristen sondern auch auf der anderen Seite. Das klingt im ersten Augenblick trivial, weil die Attentate natürlich Wut bei den Betroffenen ausgelöst haben, wird hier aber in einer Ambivalenz präsentiert, die auch der Wut der Attentäter eine gewisse Plausibilität verleiht. Doch Elfriede Jelinek geht es nicht um vordergründige Schuldzuweisungen, sondern um das Wesen der Wut, die sich auf beiden Seiten ausbreitet. Und dieser Wut rückt sie nicht argumentativ sondern assoziativ zu Leibe, indem sie Versatzstücke der jeweiligen Begründungen – Religionsidentität, Glaubensallmacht, Leitkultur, Selbstgerechtigkeit, Ausgrenzung und Armut – zu immer wieder von neuem variierten Satzkaskaden montiert.
Nach dem anfänglichem Auftritt der Darsteller verschwinden diese hinter der Leinwand, auf der nun für längere Zeit Videos von ihnen erscheinen, in denen sie an verschiedenen Stellen Darmstadts ihre Begründungen für Terror und Attentate und ihre Ansichten über die Welt verbreiten. Dabei fallen kein einziges Mal konkrete Begriffe wie „Allah“ oder „Islam“, sondern Jelinek erwähnt nur „Gott“ oder die Religion sowie die weltweiten sozialen Unterschiede. Natürlich liegt die Assoziation dieser vier Video-Darsteller mit islamistischen Fundamentalisten nahe, aber dabei leisten die automatisch sich einstellenden Assoziationen der Zuschauer ganze Arbeit, denn die Ausführungen über den „wahren Gott“ und die Strafe für Ungläubigkeit und Sittenverfall lassen sich so einfach zuordnen. Doch die Doppelbödigkeit besteht darin, dass die Offenheit der Begriffe auch ganz andere Zuordnungen erlaubt, etwa zur nationalkatholischen Welt des heutigen Polens oder zur erschreckenden Trump-Demagogie. Auch die Kostüme erlauben beliebige Interpretationen. So trägt Karin Klein ein weißes Hochzeitskleid, das ebenso zum christlichen Ambiente des ebenfalls gezeigten Hochzeitsturms passt wie zur Braut eines islamistischen Märtyrers. Matthias Znidarecs an einen Taucheranzug erinnernder schwarzer Neopren-Anzug weckt Assoziationen an IS-Kämpfer wie an hedonistische Dauersurfer. Und Maria Radomski gar tritt in einem übergroßen Hasenkostüm mit weit abstehenden Ohren auf, das man sowohl als Anspielung an die Burka wie als Satire auf westlichen Infantilismus sehen kann.
Diese sich über einen längeren Zeitraum hinstreckenden Videos wirken anfangs befremdlich, da man sie für eine Aufwärmung einer schon wieder obsoleten Regie-Marotte hält. Doch dann klärt sich der Hintergrund dieser Video-Strategie, denn einzelne, durch die Leinwand reichende Hände, dann einzelne eingerissene Löcher, in denen Köpfe erscheinen, lassen die Welt des perfekten Bildes bröckeln. Das Bild jedoch ist ein zentrales Thema im Fundamentalismus, und zwar im konträren Sinn: einerseits heißt es, dass man sich kein Bildnis machen dürfe – Bilderverbot in Islam und Judentum -, andererseits ist das über das Internet verbreitete Enthauptungsvideo eine der wichtigsten Waffen des IS. Mit diesen Tatsachen spielt auch der gesprochene Text in den verschiedensten Variationen: vom religiösen Eiferertum bis zur erregten Begeisterung über gefilmte Enthauptungen. Wer sich fragt, wozu Darsteller noch erforderlich sind angesichts der langen Video-Passage, merkt es bei genauem Hinsehen und Hinhören. Die von den Personen gesprochenen Texte werden von den Darstellern hinter der Leinwand „live“ gesprochen, sozusagen als umgekehrtes „Playback“. Man merkt es daran, dass die Synchonisation mit den Lippenbewegungen vor allem dann nicht stimmt, wenn die Darsteller die Videos selbst nicht sehen können. Diese mangelnde Synchronisation ist jedoch weniger ein technischer Mangel als vielmehr ein Regieelement. Dadurch wird die Verzahnung von Bild und Darsteller deutlich. Man könnte auch sagen, das Bild löst sich vom Sprecher und verselbständigt sich, was wiederum die Ambivalenz des Bildes verdeutlicht.
Eine wesentliche Metapher ist das Bild des Prometheus, dessen Leber täglich von einem Adler gefressen wird und nachwächst. Die Texte wandeln diese Metapher in vielfältiger Weise ab: Mal sind die Attentäter der Adler und die Leber der kern westlicher Lebensart, mal stellt die nachwachsende Leber die ebenso nachwachsende Zahl der religiösen Kämpfer dar, und am Ende steht sogar die ewig nachwachsende Zahl der Menschen am Pranger. Diese Metapher ist zu schön und einprägsam, als dass man sie zu schnell ad acta legen sollte, und so reizt Elfriede Jelinek sie auch weidlich aus, und die Darsteller skandieren sie in den unterschiedlichsten Tonlagen.
Mit zunehmender Spieldauer vergrößern sich die Risse und Löcher in der Leinwand, und schließlich zerschlagen die Darsteller sie einzeln mit Stangen, so dass vom Video nur noch Bruchstücke zu sehen sind. Auch dies lässt sich wieder als Metapher auf Bilderstürmerei verstehen. So, wie IS-Kämpfer in Syrien und Irak historische Stätten und Heiligtümer zerstören, zerstören sie am Ende auch das Bild ihres eigenen Wirkens und stehen am Ende bilderlos und hilflos da. Dies fällt zusammen mit einem zunehmenden Spott der Außenwelt, der bei den Kämpfern wiederum den Hass auf Spott und Spötter steigert. Dieser Hass steigert sich zum Schluss zu einer allgemeinen Gotteslästerung, denn diese Kämpfer verstehen nicht mehr, warum ihr Gott ihnen nicht den Sieg schenkt und den Spöttern nicht die Münder verschließt. Je mehr sie selbst das Bild ihres Erfolges zerstören, desto weniger verstehen sie den Lauf der Welt und klagen schließlich in reiner Verzweiflung eben diesen Gott an. Da dieser jedoch bis zum Schluss ausdrücklich nicht „Allah“ heißt sondern nur mit dem allgemeinen Begriff „Gott“ angesprochen wird, lässt sich diese HIlflosigkeit und Verzweiflung durchaus auch der anderen Seite zuordnen.
Für die vier Darsteller bedeutet dieser Abend Schwerstarbeit, da ihnen kein Handlungsgerüst und kein geordneter Dialog so etwas wie Stichworte gibt. Der chaotische Text muss vollständig aus dem Gedächtnis vorgetragen werden, und das mit höchster Intensität, von der Synchronisation der Texte mit den Bildern ganz zu schweigen. Die Darsteller meisterten diese Aufgabe mit Bravour und hielten den Spannungsbogen über zwei Stunden aufrecht. Doch auch für das Publikum ist dieser Abend außerordentlich anstrengend, denn das Verständnis der Texte und deren Bedeutung erfordert genaues Hinhören und hohe, lang anhaltende Konzentration. Dennoch – oder gerade deswegen? – spendete das Publikum allen Beteiligten am Ende kräftigen Beifall. Für die anschließende Premierenfeier waren jedoch offensichtlich viele zu erschöpft.
Frank Raudszus
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