Eine weitere Biographie des Weimarer Geistesfürsten aus einer etwas anderen Perspektive.
Der Titel dieses Buches verleitet zu der Vermutung, hier handele es sich um einen Lebensratgeber im Sinne einer Kalenderblattsammlung. Für jeden Tag ein Goethespruch als Trost und Zuspruch. Doch das ist glücklicherweise ein Irrtum. Stefan Bollmann geht es mehr darum, typische Verhaltensweisen Goethes herauszuarbeiten, die er allgemein gültigen menschlichen Situationen gegenüber entwickelte und die damit auch für jeden Leser gelten. Goethe hat laut Bollmann eine breite Vielfalt von Identitäten entwickelt – Poet, Verwaltungsfachmann, Politiker, Reiseschriftsteller, Genussmensch, Dramatiker und Romanschriftsteller – und ist dadurch in seinem Leben mit vielen Situationen konfrontiert worden, die ihn in Gegensatz zu herrschenden gesellschaftlichen Konventionen gebracht haben. Für ihn habe dabei stets das Gebot gegolten, einen eigenen Weg zu gehen und sich nicht den herrschenden Sitten und Gebräuchen zu beugen.
Bollmann hat sein Buch als chronologische Biographie strukturiert, wobei der strenge zeitliche Ablauf zweitrangig gegenüber den jeweiligen Schwerpunkten ist. So kann es geschehen, dass er mal vorgreift, dann wieder zurückschaut auf einen früheren Lebensabschnitt. Es geht ihm nicht darum, Goethe-Unkundigen das Leben des Dichters zu schildern, sondern seinem – im besten Fall kundigen – Publikum dessen Geist und Lebensart nahe zu bringen.
Goethes Eigenwilligkeit wird schon während seines vom Vater aufgezwungenen Jura-Studiums in Leipzig deutlich, wo er sich mehr als Poet denn als Student aufführt und schließlich als ein „Gescheiterter“ nach Frankfurt zurückkehrt. Schon dort hat er seinen eigenen Kopf gegen den Vater durchgesetzt. Das erste große Thema in Bollmanns Buch ist jedoch der „Werther“, der für Bollmann typische Wesensmerkmale sowohl Goethes als auch seiner Zeit zum Ausdruck bringt: die Rebellion gegen erstarrte Konventionen und die Befreiung der Erotik aus ihrem klerikal-bigotten Gefängnis. Daneben kommt bereits hier Goethes Strategie zum Ausdruck, persönliche Probleme durch Umsetzung in Literatur zu verarbeiten. Denn Werthers Geschichte lässt sich eindeutig auf Goethes Zuneigung zu einer bereits vergebenen Frau zurückführen.
Eine weitere wichtige Phase in Goethes Leben ist die „Italienische Reise“, die Goethe Hals über Kopf ohne explizite Genehmigung seines Weimarer Dienstherrn antrat, um sich aus der Weimarer Sackgasse zu befreien, die ihn statt zu literarischen Höhen in Verwaltung und Politik geführt hatte. Da er sich im trivialen Alltag zu verlieren fürchtete, nahm er sich eine Auszeit in der Metropole der Kunst – Rom. Dort befreite er sich auch von der moralischen Enge Weimars – und Deutschlands -, die sich in der verqueren, verklemmt-platonischen Beziehung zu Frau von Stein widerspiegelte, indem er seine erotischen Phantasien mit einer Geliebten auslebte. Konsequent hielt er diese Zeit in den „Römischen Elegien“ mit allen Details fest, was die Weimarer Mitbürger – und auch andere wohlanständige Leser in Deutschland – natürlich empörte. Bollmann zeigt an diesem Beispiel Goethes Drang nach einem eigenständigen, nicht von externen Zwängen bestimmten Leben. Dabei unterschlägt er jedoch die Tatsache, dass Goethe erst durch seine gesellschaftliche Position am Weimarer Hof die Möglichkeit dazu erhielt. Für die meisten seiner Zeitgenossen galt das nicht. Andere intellektuelle Künstler wie Jakob Michael Reinhold Lenz verfügten über keine entsprechenden Freiheiten und mussten sich als schlecht bezahlte Hauslehrer verdingen. So mancher von diesen begabten „Kollegen“ versank dann auch in Armut und Bedeutungslosigkeit oder starb früh. Goethe dagegen war durch Geburt und Beziehungen Zeit seines Lebens privilegiert. Bollmann erwähnt zwar diese literarischen Zeitgenossen – vor allem Lenz -, und lässt dabei auch unschöne Eigenarten Goethes wie Eifersucht und Neid durchscheinen, doch das schränkt seine Bewunderung der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung seines Helden in keiner Weise ein.
Natürlich dürfen Goethes Werke in einer solchen Betrachtung nicht fehlen. Neben dem „Werther“ gilt ein längeres Kapitel den „Wahlverwandschaften“, die psychologische Analyse eines Partnertausches. Goethe löst sich in diesem Roman radikal von allen religiösen oder moralischen Standpunkten zum Thema der Ehe und untersucht wie spätere Psychologen die Entwicklung erotischer Beziehungen im Laufe eines Lebens. Dass Goethes Zeitgenossen auch diese Freiheit, sich sachlich über Ehebruch und seine Gründe zu äußern, mit moralischer Empörung quittierten, ist für Bollmann ein weiterer Beweis für Goethes Sonderstellung. Für ihn war er in vielen Dingen seiner Zeit weit voraus, und die Entwicklung der Literatur im 19. Jahrhundert – Flauberts „Madame Bovary“ und Fontanes „Effio Briest“ mögen da als Beispiele dienen – bestätigt diese Sicht durchaus.
Bollmann hat das Buch wie einen Spaziergang durch einen „Goethe-Park“ strukturiert. Man betritt ihn über die „Pforte des eigenen [Goethes] Lebens“, kommt an „Werthers Grab“ vorbei, besucht kurz die „Schule des Erwachsenwerdens“(Wilhelm Meister), um über den „Wandering Spirit“ (Goethes Reiselust), „Amore, Amore“ sowie den Aussichtspunkt „Verweile doch“ schließlich zur „Pforte der Befreiung“ zu gelangen. Jeder dieser Stationen widmet Bollmann entweder eine Phase in Goethes Leben oder ein Werk des Dichters, bisweilen beides – wie oben beschrieben. Dabei beleuchtet er auch den Widerspruch, dass Goethe einerseits forderte, den Augenblick zu genießen – etwa die Erotik in den „Römischen Elegien“ -, andererseits im „Faust“ seinen Helden sagen lässt »Werd ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!“. Bollmann zieht daraus den Schluss einer Entwicklung vom vorwärts drängenden junge Mann zum reifen Dichter mit Welterfahrung.
Das Buch widerlegt die anfänglichen Befürchtungen einer gewissen Trivialität erst spät. Noch weit in den „Werther“-Teil hinein überwiegt der Eindruck, dass hier allzu Bekanntes noch einmal aufgewärmt wird. Es ist zwar nichts falsch, und weder billiges Rebellentum gegen vermeintliche Heldenverehrung noch Anbiederung an eben diesen Helden stören das Bild, doch es ergeben sich auch kaum neue Erkenntnisse. Erst mit der Italienischen Reise gewinnt das Buch an Dichte, und die Verbindung dieser Reise mit Goethes späterer Beziehung zu Christiane Vulpius bringt einige neue Gedanken und Hintergründe ins Spiel. Besonders dicht wird es dann in der Betrachtung der „Wahlverwandschaften“ und deren Verbindungen zu Goethes eigenem Leben. Wenn man das Buch am Ende zuklappt, hat man zwar keine Kalenderblattsammlung in der Hand, doch einige neue Erkenntnisse über Querbeziehungen zwischen Leben und Literatur gewonnen – hier am Beispiel Johann Wolfgang von Goethe. Ob ein Leben ohne diese Kenntnisse und ohne Goethe-Wissen sinnlos ist, wäre noch zu diskutieren, aber Buchtitel tragen ja selten die Verantwortung für den jeweiligen Inhalt.
Das Buch ist im der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) erschienen, umfasst 283 Seiten und kostet 19,99 Euro.
Frank Raudszus
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