Die Familiengeschichte eines Genies
Im Jahr 1591 zieht der Pressburger Bäckermeister und Witwer Veit Bach mit Leiterwagen und zwei Söhnen in das über dreihundert Kilometer entfernte thüringische Dorf Wechmar, weil das Leben im erzkatholischen Österreich für Protestantenj nicht mehr erträglich war und er in dem kleinen Dorf entfernte Verwandte wusste.
Von dieser Situation her entwickelte der studierte Musikwissenschaftler und Journalist Hagedorn die Geschichte der Familie Bach, die künstlerisch in Johann Sebastian Bach kulminierte. Zu Beginn der Geschichte ist der Dreißigjährige Krieg noch ungeahnte Zukunft, und auch von den Schrecken der Pest ahnt man zu dieser Zeit nichts. Doch die Familie Bach wird diese Schrecken der frühen Neuzeit schmerzlich am eigenen Familienleib erleben, und nur die damals üblich hohe Geburtenrate und die Macht des gnädigen Zufalls verhindern, dass die Familie vor Johann Sebastians Geburt ausstirbt.
Schon Veit Bach war ein begabter Musiker, und seine Söhne standen ihm in dieser Kunst in nichts nach. Volker Hagedorn zeigt an dieser Familiengeschichte examplarisch, dass sich eine bestimmte Begabung in einer Familie über Generationen nicht nur fortpflanzen sondern auch steigern kann. Während man im Fall Mozart nur Vater und Sohn kennt und schon vom Enkel nur bescheidene Versuche musikalischer Tätigkeit bekannt sind, und auch ein Beethoven ein einzelner „Ausreißer“ einer ansonsten musikalisch nicht über Lokalformat hinausgewachsenen Familie war, produzierte die Familie Bach seit Ende des 16. Jahrhundert ein gutes Dutzend hervorragender Musiker, die zu Unrecht lange Zeit in Vergessenheit geraten waren. Volker Hagedorns Verdienst ist es, diese Musiker auch einem breiten Publikum nahegebracht zu haben, denn der musikalischen Fachwelt ist diese künstlerisch so produktive Familie schon seit langem bekannt.
Umso erstaunlicher ist es, dass sogar ihr größter Spross nach seinem Tode schnell in Vergessenheit geriet und erst Musiker wie Mozart oder Mendelssohn ihn wieder entdeckten, der eine für die eigene Inspiration und der andere als Dirigent und“Arrangeur“. Ja, viele Fachleute hielten Söhne oder Vorfahren sogar einige Jahrzehnte lang für die weit besseren Musiker. Die Tatsache, dass in den besagten Zeiten die Wahl der Vornamen aus welchen Gründen auch immer recht beschränkt war, führte bei der Familie Bach zu gehäuften Wiederholungen derselben Namen, teilweise sogar in derselben Generation. Dabei belegt die Kombination „Johann Christoph“ eindeutig den ersten Platz. Das führt beim Lesen öfter zu Zuordnungsproblemen, da man sich auf die Schnelle die unterschiedlichen „Johann Christophs“ nicht merken kann. Da hilft dann der Stammbaum am Ende des Buches, der mit Veit Bach beginnt und mit der Generation von Johann Sebastian endet. Bisweilen muss man dorthin vorblättern, um zu verstehen, bei welchem Johann Christoph Johann Sebastian die musikalischen Grundlagen erlernte oder wie bestimmte Kompositionen eines der Namensvettern einzuordnen ist.
Doch das sind kleinere Probleme bei der Lektüre, die natürlich nicht dem Autor anzulasten sind. Viel wichtiger ist, dass uns Hagedorn das Bild einer Familie vermittelt, in der die musikalische Begabung der Bachs trotz Verheiratung mit „musikfremden“ Frauen immer wieder durchschlägt, ja, gegen alle Regeln der Vererbungslehre geradezu dominiert. In den ersten Generationen nach Veit Bach sind nahezu alle Söhne, die das Kindesalter überstehen, Musiker geworden. Erst in Johann Sebastians Generation treten größere „Musikerlücken“ auf. Den Frauen dagegen wurde damals eine andere Rolle vorgeschrieben, so dass sich über deren musikalische Begabung nichts aussagen lässt. Und bei den bereits im Säuglings- oder Kindesalter verstorbenen Söhnen fragt man sich spontan, welche Begabungen uns hier wohl verlorengegangen sein mögen. Diese Todesfälle sind jedoch nicht wie die der Erwachsenen überwiegend externen Katastrophen wie Krieg oder Seuchen zuzuschreiben, sondern der allgemeinen Kindersterblichkeit der Zeit, die auf mangelnde Hygiene und fehlendes medizinisches Wissen zurückzuführen war. Doch das Leid beim Verlust eines Kindes, das auch die Bachfamilie traf, wird in den Schilderungen Volker Hagedorns deutlich spürbar. Dabei vermeidet er bewusst, im Sinne eines „historischen Romans“ das Emotionale über das Dokumentarische zu stellen. An verschiedenen Stellen erfindet er zwar Dialoge oder Überlegungen der Protagonisten, aber stets im Sinne der jeweiligen Situation und nie in der Absicht, das Buch emotional anzureichern. Ja, er kommentiert sogar im Fließtext diese fiktiven Elemente kritisch und erklärt sein Vorgehen damit, den Kontext der Zeit anhand solcher fiktiver Szenen verdeutlichen zu wollen. Das gilt in gleichem Maße für Tod und Krankheit wie für Hochzeiten und andere Familienfeiern, aber auch für musikalische Themen.
Im Rahmen dieser Familiengeschichte kommt Hagedorn auch auf das „Bach-Archiv“ zu sprechen, das im Grunde auf den Aufzeichnungen und Sammlungen der Familie selbst beruht. Einzelne Musiker der Bach-Familie haben sich schon früh bemüht, die Werke der Verwandten zu kopieren und zu sammeln, wobei das in der damaligen Zeit aus nahe liegenden Gründen nicht immer so zuverlässig möglich war wie heute. Manches Werk ist auf diese Weise verschollen, doch glücklicherweise haben Brände und andere Katastrophen sich nicht auf diese Sammlungen ausgewirkt. Selbst der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg entging das Bach-Archiv mit einigem Glück, und beim Brand der „Anna Amalia“-Bibliothek lagerte das Bach-Archiv glücklicherweise im Keller und nicht im total ausgebrannten Dachstuhl (wo andere unschätzbare Dokumente verbrannten). In den Wirren des Kriegsendes gelangte das ausgelagerte Archiv in die Ukraine, und mit viel Glück und etwas Chuzpe gelang die Rückübertragung nach Deutschland in der kurzen liberalen Phase nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.
Dieses Buch vermittelt Musikliebhabern und speziell den Freunden Bachscher Musik einen tiefen Einblick in die Zeit vor Johann Sebastian Bach. Er selbst kommt nur noch als „Randperson“ vor, da seine Biographie mehr als ausreichend in der Fachliteratur behandelt worden ist. Volker Hagedorn gelingt es in seinem Buch jedoch, den gesellschaftlichen und künstlerischen „Humus“ zu beschreiben, in dem das Genie Johann Sebastian erst wachsen und gedeihen konnte. Glücklicherweise ist er nicht als Säugling gestorben!
Das Buch „Bachs Welt“ ist im Rowohlt-Verlag erschienen, 415 Seiten und kostet 24,95 Euro.
Frank Raudszus
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