Ein Roman über das Erwachsenwerden und die Bedeutung von Bildung.
Elena Ferrante erzählt von der Freundschaft zweier Mädchen, später Frauen. Sie wachsen in Rione auf, einem Arbeiter-Stadtteil von Neapel. Da ist zum einen Elena – eher schüchtern, angepasst, fleißig -, und zum anderen Lila – draufgängerisch, unangepasst bis eigenwillig und von hoher Intelligenz. Elena bewundert ihre Freundin Lila bis zur Selbstaufgabe. Eigentlich möchte sie so sein wie sie und dafür von der anderen zurückgeliebt werden. Doch Lila ist viel unabhängiger. Sie steuert Elena lange Zeit, wie es ihr passt, ohne dass diese es merkt.
Beide Mädchen sind in der Grundschule die Klassenbesten. Die Wege trennen sich erst, als Lila von ihrem Vater gezwungen wird, in der Schusterei zu arbeiten, während Elena durch den Einfluss der Grundschullehrerin auf ihre Eltern weiter zur Schule gehen kann und den Realschulabschluss macht. Sie schafft es schließlich sogar bis auf das Gymnasium.
Durch die Schulbildung überschreitet Elena die engen Grenzen ihres Stadtteils, lernt Latein und Griechisch und ist umgeben von anderen, aufgeweckteren Schülern. Lila dagegen bewegt sich im Kreise von Maurern, Flickschustern, Autohändlern sowie Wurst- und Gemüsehändlern. Trotzdem bildet sie sich weiter fort. Sie liest die Äneis und lässt sich alles über die historische Entwicklung ihres Stadtteils erzählen. Dabei erfährt sie, wie der eine oder andere Einwohner unter Mussolini zu Geld gekommen ist. Sie setzt sich intensiv mit der Vergangenheit der Bewohner des Stadtteils auseinander, erwirbt politisches Bewusstsein und versucht, mit ihrem Wissen wieder auf Augenhöhe mit Elena zu gelangen.
Aufschlussreich ist die Schilderung einer Sylvesternacht, in der es um einen archaischen Wettstreit der jungen Männer von Rione geht. Wer die meisten und tollsten Raketen zündet, ist der Held dieser Nacht. Was anfangs noch fair beginnt und zum Staunen und gegenseitiger Bewunderung einlädt, artet nach dem Verbrauch aller Raketen zu einem wahren Krieg aus, in dem die Kontrahenten am Ende scharf schießen. Jetzt geht es den temperamentvollen jungen Italienern nur noch ums Siegen mit allen Mitteln.Die Mädchen erkennen in dieser Sylvesternacht, dass sich die Unkultur des Stadtteils nie ändern wird.
Als Lila schließlich einen Jungen aus ihrem Viertel heiratet und damit endgültig im Proletariat verwurzelt bleibt – so, wie es die Grundschullehrerin vorausgesagt hat – , trennen sich die Wege der beiden Mädchen. Elena schafft durch Bildung den Weg in die Eigenständigkeit.
Elena Ferrante beschreibt sehr ausführlich die intensive Freundschaft von Elena und Lila. Sie erzählt von den gegenseitigen Abhängigkeiten der beiden Mädchen, aber auch von Stärken und Unterstützungen auf ihrem Weg von der Kindheit ins Erwachsenenleben. Beide haben erkannt, wie das Zusammenleben der einfachen Arbeiter in ihrem Stadtteil Rione funktioniert und dass nur Bildung und daraus resultierende Erkenntnis aus der Unterschicht herausführen können. Wie steinig dieser Weg jedoch ist, ist das eigentliche Thema dieses Romans.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 423 Seiten und kostet 22 Euro.
Barbara Raudszus
No comments yet.