Das Minguet-Quartett interpretiert beim 9. Kammerkonzert des Staatstheaters Darmstadt Streichquartette von Haydn, Schumann und Glenn Gould.
Das Minguet-Quartett – Ulrich Isfort(1. Violine), Annette Reisinger (2. Violine), Aroa Sorin (Viola) und Matthias Diener (Violoncello) – hat sich nach dem spanischen Philosophen Pablo Minguet benannt, der „dem breiten Volk Zugang zu den Schönen Künsten verschaffen“ wollte. Dieser Hintergrund passte insofern zu dem 9. Kammerkonzert, als die präsentierten Stücke alles andere als leicht, eingängig oder gar „Ohrwürmer“ waren. Jedes stellte auf seine Art hohe Ansprüche an die Rezeptionsfähigkeit des Publikums, und die vier Musiker sahen es als ihre Aufgabe, diese Stücke dem Publikum nahe zu bringen. Um es vorab festzustellen: das gelang ihnen hervorragend.
Joseph Haydns Streichquartett D-Dur op. 76 Nr. 5 entstand im Jahr 1797, als der Komponist bereits 65 Jahre alt war und sein künstlerisches Werk weitgehend vollendet hatte. In den späten Streichquartetten bündelte er noch einmal all seine musikalische Erfahrung und ging auch neue, ausgefallene Wege. Der erste Satz besteht aus einer Variationenfolge, die durch ihre musikalische Dichte und jeglichen Verzicht auf vordergründige Effekte besticht. Zwar ist Haydns Stil unverkennbar, doch der leichte, „wienerische“ Ton ist einer konzentrierten Innenschau gewichen. Der zweite Satz lässt sich nur als abgründig bezeichnen. Schon die weit abliegende Tonart Fis-Dur zeigt den Bruch mit herkömmlichen Kompositionsstilen. Die Tempobezeichnung „Largo“ verleiht diesem Satz etwas Somnambules, ja: Schwermütiges, wie man es – später – nur von Schubert kennt, und der Satz verklingt in einer Art Todessehnsucht. Das Menuett des dritten Satzes folgt zwar der Gattungsbezeichnung, verströmt jedoch keine tänzerische Leichtigkeit sondern geradezu Strenge, die konsequent dem Ende zustrebt. Der vierte Satz beginnt mit einem Doppelschlag aller Instrumente, um dann in eine Parforce-Jagd überzugehen, wie man sie von einem „Jagdquartett“ erwarten würde. Auch hier jedoch wieder nicht im Sinne eines heiteren Freizeitvergnügens sondern als eine Jagd, die einem wohl definierten Ziel gilt, das man mit hoher Konzentration verfolgt.
Bisweilen spürt man in diesem Quartett bereits den musikalischen Ernst eines Beethoven, wenn auch die typischen Haydnschen Charakteristiken erkennbar bleiben. Die vier Musiker betrachteten dieses Stück daher auch nicht als „Aufwärmübung“, wie man das oft zu Beginn eines anspruchsvollen Konzerts erlebt, sondern gingen es vom ersten Takt mit musikalischen Ernst und höchster Konzentration an. Man spürte förmlich die Aura des musikalischen Eros zwischen ihnen flirren, um einmal dieses etwas pathetische Bild zu wagen. Bewusst bauten sie den zweiten Satz zum Höhepunkt dieser Interpretation auf, nach dem die beiden letzten Sätze eine wohl dosierte und in kleinen Dosen servierte Entspannung boten. In diesem zweiten Satz modellierten sie jeden Takt, ja bisweilen jeden Ton oder Klang einzeln, wobei sie sich mit fast unmerklichen Körpersignalen untereinander abstimmten. Dieser zweite Satz hätte den im Konzert zu Recht verpönten Szenenapplaus sicher verdient gehabt.
Das zweite Stück war eine Rarität, hat es doch der berühmte Pianist Glenn Gould verfasst. Zwar hatte er bereits in den fünfziger Jahren von einer Zukunft als Komponist gesprochen, doch der Nachwelt ist er nur als eigenwilliger, ja: exzentrischer Pianist bekannt. Sein Streichquartett in f-Moll entstand Mitte der fünfziger Jahre und ist als einsätziges Werk gekennzeichnet. Dennoch ist es deutlich in einzelne Partien unterteilt, die durch deutliche Zäsuren voneinander getrennt sind. Wer will, mag diese einzelnen Teile als „Sätze“ interpretieren. Der Komponist hat es nicht getan. Das Stück ist für seine Entstehungszeit erstaunlich tonal und könnte – zumindest in Teilen – ebenso zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden sein. Nur die weitgehend freie Metrik und von Zeit zu Zeit ungewohnte Harmonien verweisen auf einen späteren Zeitpunkt. Man kann diesem Stück auch keine Themen im Sinne der klassischen Sonatenform entnehmen. Die kurzen musikalischen Motive entstehen aus dem Moment und weichen schnell wieder einem neuen Gedanken. Wenn man so will, präsentiert dieses Stück eine permanente Gegenwart, die sich nicht auf die vorangehenden Motive stützt, und ist einem ständigen Wandel unterworfen. Ohne leicht erkennbare Makro-Struktur fließt die Musik in sich immer wieder verändernden Mäandern voran, wobei jedoch oft klangliche oder auch motivische Anklänge an die Spätromantik des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu erkennen sind.
Das Minguet-Quartett empfand die Abfolge musikalischer Ideen buchstäblich Takt für Takt nach und brachte es dadurch fertig, diesem scheinbar strukturlosen Werk doch so etwas wie eine Struktur zu verleihen. In gewisser Weise eröffnete ihre Interpretation einen kleinen Einblick in die innere Welt dieses Ausnahmemusikers, der außer in seinen außergewöhnlichen Interpretationen bekannter Klavierstücke so wenig von sich gab. Trotz der hohen Anforderungen an die Rezeptionsfähigkeit ernteten die vier Musiker mit ihrer Interpretation am Ende spontanen, fast begeisterten Beifall.
Den Abschluss des Konzertes bildete Robert Schumanns Streichquartett in A-Dur, op. 41 Nr. 3 aus dem Jahr 1842. Auch dieses Werk sperrt sich – wie so manche Kammermusik von Schumann – gegen eine leichtgängige Rezeption. Schon der Beginn mit einem „Andante espressivo“ ist ungewöhnlich und versetzt den Zuhörer sofort in eine zerrissene Stimmung. Verhaltene Stellen in stetem Wechsel mit expressiven Ausbrüchen prägen diesen Satz, der so gar nicht eingängig daher kommt. Nicht viel anders ist der zweite Teil des ersten Satzes, ein „allegro molto moderato“. Auch hier überwiegen die melancholischen, fast schwermütigen Passagen. Erst das“assai agitato“ des kurzen zweiten Satzes bringt ein anderes, vorwärts drängendes Element in die Musik. Im „adagio molto“ des dritten Satzes kehrt Schumann jedoch wieder zurück in die Introvertiertheit des ersten Satzes und bringt eine Fülle von Gefühlsregungen zum Ausdruck, die alle um innere Zerrissenheit und existenzielle Unsicherheit kreisen. Erst der Finalsatz mit seinen zwei charakteristischen Themen zeigt Anzeichen von Befreiung und Aufbruch. Temperament und ein vorwärts drängender Optimismus sind diesem Satz nicht abzusprechen, und es will scheinen, als habe sich Schumann in diesem Satz noch einmal aufgerafft, dem Leben auch kämpferische Seiten abzugewinnen. Zeit seines Lebens schwankte er zwischen den beiden Polen „Eusebius“ (Melancholie) und „Florestan“ (Lebensfreude), welch letzterer hier noch einmal zu obsiegen scheint.
Die vier Musiker zeigten auch in dieser Komposition die emotionalen Brüche und die Zerrissenheit des Komponisten auf. Bis zum Schluss hielten sie das Publikum mit ihrer facettenreichen und dabei hoch transparenten Interpretation in ihrem Bann. Das beste Zeichen waren die vollständig ausbleibenden Huster, sonst weniger liebe Begleiter fast jeder Konzertaufführung. Auch hier fiel wieder die enge Abstimmung der Musiker untereinander auf, die ausgesprochen sensibel auf das Spiel ihrer Kollegen eingingen und entsprechend darauf antworteten. Der kräftige Beifall war denn auch mehr als verdient und führte noch zu einer Zugabe in Gestalt eines Stücks von Maurice Ravel.
Frank Raudszus
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