Eine anarchisch-rebellische Jungliteratin streift durch das Moskau der achtziger Jahre.
Kiew in den frühen Achtzigern: Ein junges Mädchen an der Kunstschule sieht sich in der grauen Provinz vertrocknen und träumt von Moskau, dem Mittelpunkt der Welt – Tschechow lässt grüßen. In der alternativen Jungmädchenwelt erhält unsere Heldin das Pseudonym Elephantina. Die jungen weiblichen Freigeister schwören sich gegenseitig die absolute Rebellion gegen alle weltlichen und intellektuellen Autoritäten, die Verpflichtung zu einer neuen, radikalen Kunstauffassung und die lebenslange erotische Abstinenz. Als ein junger Moskauer Dichter zu einer Lesung nach Kiew kommt, verliebt sich Elephantina entgegen allen Schwüren unsterblich in ihn, jedoch mehr geistig-platonisch als erotisch – wie sie meint, und flieht nach Moskau, um ihrem Idol nahe zu sein.
Nun beginnt eine wahre Odyssee durch die kalte und fremde Stadt, die James Joyce nicht radikaler und hautnäher hätte beschreiben können. Elephantina hängt Pinsel und Palette an den Nagel und entdeckt ihre Liebe zum Theater, wo sie nicht nur einen Statisterieposten sondern auch kurzfristig Unterschlupf findet. Dann beginnt eine Wanderschaft durch verschiedene Unterkünfte: bei resoluten Offizierswitwen, bei senilen Ex-Schauspielerinnen, bei entfernten Verwandten und bei neu geknüpften Bekanntchaften, um nicht das Wort „Freunde“ zu verunglimpfen. Nirgends bleibt Elephantina lange, entweder wegen bürgerlicher oder pseudo-intellektueller Ansichten ihrer Gastgeber oder wegen ihrer doch recht eigenen Lebensführung und Ansichten und ihrer direkten Art, diese zu äußern. So werden Metro-Stationen oder mehr oder minder kalte Treppenhäuser anonymer Hochhäuser zu ephemeren Nachlagern. Dazu erlebt sie das Leben – vornehmlich dessen nächtliche Seite – der literarischen und sonstig künstlerischen Intelligenzia Moskaus. Dorthin zieht es sie, um ihrem Idol nahe zu sein, den sie im Stillen mit immer neuen, der Flora entlehnten Variationen seines Namens überzieht. Wenn sie ihn denn trifft – mit weichen Knien -, behandelt er sie jedoch nicht als – erotisch – ernst zu nehmende Frau sondern als junges Mädchen mit literarischen Flausen im Kopf, was sie einerseits kränkt, was sie aber auch erstaunlich demutsvoll erduldet. Hier schlägt die Liebe den anarchischen Stolz.
Im Laufe der ziellosen Irrfahrten durch Moskau beginnt Elephantina das Theaterstudium, doch als eifrige Studentin der Theaterwissenschaft sieht sie sich nicht, eher als Autodidaktin, die sämtliche Gesetze, Regeln und Konventionen des Kunstbetrieb abgrundtief verachtet und nur auf ihren Genius vertraut, der alles erst gründlich zerstören muss, bevor man wieder von Neuem beginnen kann. Doch versteht sie sich nicht als planmäßig vorgehende Revolutionärin à la Lenin sondern als anarchische Rebellin gegen alles Bestehende, sei es der sowjetische Staat, der KGB – mit dem sie auch zu tun bekommt, oder die Verwaltung der Hochschule, die sie schließlich mangels Leistung exmatrikuliert. Ihre wahre Bestimmung sieht Elephantina in der Literatur, und so verfasst sie auf ihrer alten Schreibmaschine bahnbrechende Werke über das Leben und den Tod, die jedoch im literarischen Bekanntenkreis eher Verwirrung als Bewunderung auslösen.
Julia Kissinas Schelmenroman, wie man ihn durchaus bezeichnen kann, greift jedoch weniger die Ziellosigkeit des jungen Mädchens an, sondern vielmehr den Zustand der russischen – oder sowjetischen – Gesellschaft – der achtziger Jahre. Ihr geht es dabei weniger um politische Aspekte als vielmehr um das tägliche Leben vor allem der sogenannten Intelligenzia. Diese ist geprägt von Schwadroneuren und Möchtegern-Dichtern, die mehr dem Wodka als der Arbeit zuneigen, und von einem planlosen „Leben in den Tag hinein“. Man bewundert mal den, mal jenen, feiert sich selbst und die eigenen pseudo-poetischen Ergüsse, hofft auf den großen Durchbruch und träumt vom Ruhm, der nie kommen wird. So wie sich das Leben dieser Gesellschaft im Kreis dreht, dreht sich auch Elephantinas Leben als deren Metapher ohne Weiterentwicklung im Kreis. Wenn sie nach ihrer Irrfahrt durch Moskaus (und Russlands) desolaten Wohnsilos nach Kiew ins elterliche Haus zurückkehrt, hat sie nicht nur alle Studienträume aufgegeben sondern auch keine persönliche Entwicklung durchlebt. Julia Kissina will diesen Roman offensichtlich nicht als – optimistischen -Entwicklungsroman aufgefasst wissen, sondern als Momentaufnahme einer völlig orientierungslosen, zwischen utopischer Träumerei, intellektuellem Größenwahn und nihilistischem Defätismus schwankenden Jugend. Auf eine politische Deutung dieser Situation verzichtet sie bewusst und beschränkt sich auf eine kurze Liste historischer Ereignisse des jeweiligen Jahres, die den Leser noch einmal auf die jeweilige weltpolitische Situation einstimmt.
Julia Kissinas Sprache ist direkt und verzichtet auf jegliche stilistische „Aufhübschung“. Kräftiges Vokabular, bis an die Grenze zum Zynismus reichernder Sarkasmus, schräge aber treffende Metaphern und so originelle wie gewagte Wortschöpfungen – von den beiden Übersetzern glaubwürdig ins Deutsche transferiert, lassen das Buch zu einem sprachlichen Feuerwerk werden. Das Buch langweilt keinen Augenblick lang und lässt trotz der mehr als bitteren „Gossen“-Geschichte sogar so etwas wie einen trotzigen Humor aufblühen.
Der Roman „Elephantinas Moskauer Jahre“ ist im Suhrkamp-Verlag erschienen, umfasst 234 Seiten und kostet 22,95 Euro.
Barbara Raudszus
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