Am Staatstheater Darmstadt inszeniert Intendant Karsten Wiegand Verdis „Rigoletto“.
Zufall und Spielplan wollten es, dass der Rezensent diese Inszenierung einen Tag nach Cavallis Barockoper „La Calisto“ sah. Das eröffnete die Möglichkeit, die Entwicklung der Gattung Oper über zweihundert Jahre nachzuvollziehen. Dominieren in der Barockoper noch das fast naive Vorsingen einfacher Dialoge und Monologe sowie die reduzierte Begleitung durch das Orchester, so haben sich beide musikalischen Säulen der Oper Mitte des 19. Jahrhunderts um Dimensionen weiter entwickelt. Auf der Bühne erklingen jetzt nicht nur ausgefeilte, dramatische Arien, sondern darüber hinaus komplexe Duette und mächtige Chorpartien. Das Orchester ist nicht nur instrumental deutlich gewachsen, sondern spielt auch einen wesentlich eigenständigeren Part mit dramatischen Steigerungen. In jeder Hinsicht hat die Oper in diesen zweihundert Jahren an Wucht und Ausdruckskraft gewonnen.
Giuseppe Verdis „Rigoletto“ bietet alle Voraussetzungen für eine emotional aufgeladene Oper. Die Geschichte um den Hofnarr, der die erotischen Eskapaden seines fürstlichen Herrn und Herzogs von Mantua mit rüdem Spott über die gehörnten Höflinge begleitet, muss letztlich tragisch für ihn enden, da sich Rigoletto den Hass des gesamten Hofstaates zuzieht. Als jedoch auch seine eigene, vermeintlich bestens beschützte Tochter Gilda dem fürstlichen Weiberheld zum Opfer fällt und damit Schande über Vater und Tochter bringt, beauftragt Rigoletto einen Profikiller mit der Ermordung seines Herrn. Doch Gilda erfährt davon und opfert sich anstelle des trotz seiner Treulosigkeit immer noch geliebten Herzogs, so dass Rigoletto am Schluss seine sterbende Tochter in den Armen hält.
Karsten Wiegand hat von vornherein auf politische Aspekte oder gar lockende Aktualisierungen verzichtet. Weder Klassenkampf noch Konfrontation von verkommenem Herrscher mit edlem Untertan spielen für ihn eine Rolle. Er verzichtet sogar auf die eindeutige Zuordnung von Gut und Böse. Streckenweise scheint der Herzog von Mantua (Andrea Shin) tatsächlich echte Liebe für Gilda zu empfinden, und an diesem Eindruck kann auch sein Besuch bei der Hure Maddalena nichts ändern, da sie dramaturgisch in erster Linie dem Zweck dient, den Herzog und seinen potentiellen Mörder zusammenzuführen. Der Herzog wirkt eher wie eine Verdi-Version des leichtlebigen Don Giovanni denn wie ein gewissenloser Übeltäter. Als Pendant dazu ist Rigoletto nicht nur das seelisch gemarterte Opfer sondern selbst auch ein Täter. Es bereitet ihm geradezu eine fast sadistische Freude, die Ehemänner der entehrten Frauen zu verspotten, und für einen fordert er sogar vorlaut die Enthauptung. Er kompensiert seine traurige Rolle als buckliger Hofnarr mit Bosheiten unter dem vermeintlichen Schutz des Herzogs. Diese Selbstüberschätzung vergrößert die Fallhöhe am Ende und hält das Mitleid mit ihm in Grenzen.
Weiterhin setzt Wiegand konsequent auf eine szenische Verdichtung, unter anderem durch eine weitgehende Reduzierung des Bühnenbildes. Dieses besteht zu Beginn lediglich aus einer hüfthohen, gekachelten Wand, hinter der die Männer mit gesenktem Kopf und ebenso gesenkten Händen stehen. Wären nicht die hellen Kacheln, könnte man an das stille Gebet beim Betreten einer Kirche denken, doch spätestens die losen Reden über Frauen lassen auf den wahren Ort dieses Männertreffs schließen. Auf einem erhöhten Podest spielt ein echtes Orchester, das sich nicht nur aus Mitgliedern des Staatsorchesters rekrutiert sondern von dort auch Verdis Musik ertönen lässt. Sozusagen „Verdi stereo“. Ein roter Bühnenvorhang ist auf eine Weise angeordnet, als trennte er den Festsaal einer großen Gesellschaft von den eher intimen Räumlichkeiten. Später senken sich Kronleuchter aus dem Bühnenhimmel und symbolisieren hochherrschaftliches Ambiente; und wenn Rigoletto seine entführte Tochter sucht, senkt sich ein überdimensionierter Holzrahmen aus dem Bühnenhimmel und präsentiert sich in geradezu puristischer Manier als unzugänglicher Palastbereich, der Assoziationen an Kafkas Romane weckt. Nur gegen Ende nimmt das Bühnenbild emotionale Fahrt auf, wenn die heruntergekommene Bleibe des Killers Sparafucile und seiner Schwester Maddalena als billiges Hafenbordell mit einem roten Leuchtröhren-Herz ausgeschmückt wird, die der umtriebige Herzog ausgerechnet in Matrosenuniform besucht. Vielleicht ein wenig zu viel des Guten, zumal es sowieso nicht logisch erscheint, dass sich der Herzog von Mantua seinen erotischen Kick ausgerechnet in einer billigen Hafenkneipe holt. Doch Opernlibretti sollte man bekanntlich nicht zu genau auf ihre Logik prüfen…
Dieser Verzicht auf opulente Kulissen kommt natürlich der szenischen Darstellung zugute, da sich die Konzentration der Zuschauer ganz den Personen zuwenden kann. Das erfordert andererseits nicht nur gute Sänger sondern auch eine gute Personenregie und vor allem überzeugende Darsteller, die der Szene Leben und vor allem Glaubwürdigkeit einhauchen können. Das ist hier weitgehend gelungen. Die Szenen sind durchweg von einer solchen Dichte und inneren Konsistenz, das keinen Augenblick das Gefühl von Längen aufkommt. War Verdi selbst schon ein Meister der szenischen Anordnung, was jeder Inszenierung à priori zugute kommt, so tragen Regie und Darsteller ihren Teil dazu bei, diese Inszenierung als menschliches (Musik-)Drama zu gestalten. Körpersprache, Mimik und Gestik aller Darsteller lassen die jeweiligen Szenen hautnah als das erscheinen, was sie darstellen sollen: Schande, Demütigung, Verachtung, Überheblichkeit, Rachegedanken und Entsetzen, aber auch Gefühlstiefe, Sehnsüchte und Ängste. Die sängerischen Leistungen sind durchweg überzeugend, wozu bei der dieser Rezension zugrunde liegenden Aufführung noch die – üblicherweise eher katastrophale – Erkrankung der „Gilda“-Darstellerin beitrug: als Ersatz sprang ausgerechnet Daniela Fally von der Staatsoper Wien auf, die mit der Gilda dort im letzten Jahr ihr Rollendebut gegeben hat. Man kann sich schlechtere Ersatzvarianten denken….
Daniela Fally überzeugt mit einem glockenhellen, auch in den höchsten Lagen unangestrengten und modulationsfähigen Sopran und fügt sich auch problemlos in das Darmstädter Regiekonzept ein. Neben ihr und über weite Strecken mit ihr zusammen bildet Olafur Sigurdarson als Rigoletto einen weiteren Schwerpunkt dieser Inszenierung. Er bringt das Doppelbödige dieser Figur überzeugend zum Ausdruck, spielt den zynischen Spötter ebenso glaubwürdig wie den liebenden oder später den gebrochenen Vater. Andrea Shin arbeitet den ambivalenten Charakter des Herzogs von Mantua heraus, der mal als erotischer Nutznießer seiner Machtstellung, mal als liebender Mann erscheint und in beiden Rollen glaubwürdig wirkt. Shin zeichnet damit einen Charakter, der weniger von Natur aus böse denn durch seine angeborene Machtposition korrumpiert und zur Verantwortungslosigkeit geradezu erzogen worden ist. Doch auch die sogenannten Nebenrollen gewinnen in dieser Inszenierung Profil, sei es Amira Elmadfa als mal knallharte Prostituierte, mal empathisch-mitleidende Frau oder Shavleg Armasi als ihr Bruder und Killer Sparafucile, der selbst als Mörder noch einem Ehrenkodex verinnerlicht hat. Gute Arbeit für guten Lohn. Thomas Mehnert spielt einen verzweifelten weil vom Herzog entehrten Grafen, der zeitweise durch die Intensität seines Auftritts fast zu einer Hauptperson avanciert. Auch Oleksandr Prytolyuk als Marullo und Werner Volker Meyer als Graf von Ceprano liefern sängerisch und darstellerisch wohl
konturierte Charakterstudien ab, die neben den Hauptrollen bestehen können.
Weiterhin ist die Leistung des Chors hervorzuheben, der nicht nur seine stimmliche Vielfalt kraftvoll zum Ausdruck bringt, sondern auch in vielerlei Kostümen auftritt und damit unterschiedliche Typen vertritt, die wiederum durch individuelle Gestik und Mimik voneinander zu unterscheiden sind. Das gelingt den Mitgliedern des Chors hervorragend, so dass sich ein außerordentlich lebendiges und in jeder Hinsicht farbenfrohes Bild der Chorszenen ergibt. Von Statik kann keine Rede sein, und die Auftritte des Chors erfordern sekundengenaue Abstimmung, die jedoch dank hoher Professionalität keinen Augenblick ins Stolpern geriät.
Die musikalische Leitung dieser Aufführung lag bei dem noch nicht vierzigjährigen Gastdirigenten Enrico Delamboye, und er leitete das Orchester des Staatstheaters, als habe er nie etwas anderes getan. In den dramatischen Szenen steigerte sich das Orchester zu gesammelter Wucht, um dann in den lyrischen Momenten – „Gualtier Maldé“ – in eine zarte, gerade noch hingetupfte Begleitung zurückzuziehen. Die immer wieder wie Sehnsuchtsmotive einzeln einsetzenden Instrumente verliehen der Musik dank einer fehlerfreien Intonation und einer besonders feinfühligen Interpretation der jeweiligen Szene einen gegenüber dem Bühnengeschehen ganz eigenen Stellenwert. Ohne zu dominieren, agierte das Orchester über die gesamte Aufführung als selbständiger Partner einer in sich stimmigen Inszenierung und bewies damit, dass ein Opernorchester mehr leisten kann als die harmonische und motivische Unterstützung der Sänger (generisches Maskulinum!) auf der Bühne.
Das Publikum in dem sechs Wochen nach der Premiere ausverkauften großen Haus war begeistert und zeigte dies mit langem, kräftigem Beifall.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Candy Welz
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