Das MMK Frankfurt zeigt in der Ausstellung „Kader Attia. Opfer und Harmonie“ Werke der Algeri schen Künstlers.
Die Kulturlandschaft Frankfurt sorgte ein diesem Vormittag der Pressevorbesichtigung für eine seltene Koinzidenz: auf der Fahrt zum MMK hörte der Rezensent einen Beitrag des HR über die neue CD des Orchesters des Hessischen Rundfunks und dessen Aufnahme von Strawinskys „Sacre du Printemps“. Dieses Werk dreht sich um die mythische Bedeutung des „Opfers“, das letztlich den Zweck verfolgt, die göttlichen Instanzen mit den Menschen zu versöhnen. Eben diesem Thema widmet sich der Algerier Kader Attia in seinen Werken, die stets um den Topos der Wunde und deren „Reparatur“ ( „Repair“) kreisen.
Attia sieht bei den tatsächlichen geschichtlichen Funden und Artefakten das Bemühen, diese in dem Zustand auszustellen, in dem man sie gefunden hat – von gründlichen Reinigungen und Zusammenfügungen der Einzelteile abgesehen. Antike Statuen werden mit abgeschlagenen Nasen und Gliedmaßen gezeigt, soweit man diese nicht mehr finden konnte. Niemand käme auf den Gedanken, diese historischen Relikte perfekt zu restaurieren. Damit ist ihre Geschichte in ihrem Äußeren dokumentiert. Der moderne westliche Ansatz verfolgt jedoch den Gedanken der „Reparatur“, der alles Beschädigte in einen fehlerlosen Urzustand versetzen möchte. Das gilt für die banale Reparatur des Autos ebenso wie für Wiederherstellung schwer beschädigter Gebäude, Brücken oder Straßen – etwa nach Erdbeben – und natürlich vor allem für die plastische Chirurgie, die Narben möglichst verschwinden lassen will. Diese Vorgehensweise raubt für Attia den Gegenständen (und Menschen) jedoch ihre Geschichte und lässt sie als Objekte und Subjekte des Augenblicks erscheinen.
Attia konstatiert diese Attitüde des Westens vor allem in seiner Heimat Algerien und anderen ehemaligen Kolonien des Westens. Die Wunden der Kolonisation sind unbestritten geschlagen worden, und der Versuch, sie durch politische und ökonomische Maßnahmen zu „heilen“ und damit ungeschehen zu machen, stellt für ihn eine historische Lüge oder zumindest Bemäntelung dar. Dabei versteht sich Attia durchaus nicht als politischer Revolutionär gegen den Westen, er ist vielmehr auch dort zu Hause. In Frankreich geboren (1970), wuchs er in Algerien auf und übersiedelte später nach Frankreich. Doch sein Blick hat beide Welten im Visier, und er sieht durchaus die unterschiedlichen Kulturen und die Folgen jahrhundertelanger kolonialer Hegemonie.
Die einzelnen Werke der Ausstellung zeigen immer wieder die Bruchlinien zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Politischen Systemen. Gleich am Eingang hat Attia eine Gasse im westjordanischen Hebron in Originalgröße nachgestellt, wo palästinensische Bewohner der Erdgeschosse sich durch große Gitter gegen den Müll der über ihnen wohnenden israelischen Siedler abschotten. Zusätzliche Fotos aus Hebron begleiten und kommentieren diese Situation allein mit der Kraft der Bilder und reichen damit weit über die rein lokale Lage ins allgemein Politische hinein. In einer anderen Installation lässt Attia „Bäume“ aus zusammengeschweißten Metallstäben aus einem Trümmerboden wachsen, die statt Blättern kleine Steinschleudern aufweisen, wie sie früher Kinder als Waffen gegen Vögel bauten und heute verzweifelte palästinensische Jugendliche als „David“-Waffen gegen den gefühlten Goliath Israel verwenden.
Die zentrale Installation von geradezu wuchtiger Wirkung besteht in einer Reihe von Holzmasken, die afrikanische Künstler aus vollen Baumstämmen geschnitzt haben. Diese Masken sind den Physiognomien französischer Teilnehmer des Ersten Weltkrieges nachempfunden, die 1938 als Demonstration gegen einen drohenden neuen Krieg aufmarschierten. Attia begleitet und kommentiert seine Masken mit einer filmischen Collage, die er aus historischen Aufnahmen über dieses Ereignis hergestellt hat. Die Masken zeigen die entstellten Gesichtszüge der Kriegsinvaliden in drastischer Form, und die als Material herangezogenen Bäume wuchsen während des Ersten Weltkriegs aus dem afrikanischen Boden. Attia verweist damit auch auf die Wunden der Kolonialisierung, da unter den verwundeten und gefallenen Soldaten auch viele junge Männer aus den Kolonien waren.
Das letzte Werk der als Rundgang konzipierten Ausstellung ist eine Kugel von etwa knapp einem Meter Durchmesser, die aus Spiegel-Fragmenten „zusammengenäht“ wurde. Man sieht deutlich die Narben beim Entstehen dieser Kugel, die natürlich für den Planet Erde steht, der wiederum sich aus den Resten verwundeter, zerstörter und unterdrückter Völker zusaammensetzt. Diese Wunden soll man laut Attia nicht bis hin zur Unsichtbarkeit „reparieren“, sondern sichtbar machen und damit historisch bewahren.
Die Ausstellung ist vom 16. April bis zum 14. August 2016 geöffnet. Weitere Informationen über die Webseite des MMK.
Frank Raudszus
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