Das St. Pauli Theater präsentiert „Der Vater“ nach Florian Zeller
Ob Paris, London, Berlin oder Hamburg – nationale und regionale Grenzen spielen für die Demenz keine Rolle. Florian Zellers Drama spielt in einer Pariser Altbauwohnung. Aber es gibt auch Momente, da fragt man sich, ob es nun nicht doch plötzlich in London spielt. Denn da wollte doch des Vaters Tochter Anne (Johanna Christine Gehlen) hinziehen, um bei ihrem neuen Freund Pierre (Stephan Schad) zu wohnen. In einem anderen Moment hatte sie aber gegenüber ihrem Vater André (Volker Leuchtenbrink) vehement bestritten, nach London ziehen zu wollen. Also was nun? Und schon sind wir mitten in der verwirrenden Welt des André. Wo Wirklichkeit und Fiktion verschmelzen, ohne dass sie selbst immer für den Betrachter auseinander zu halten wären. Nun kennt natürlich auch der Betrachter die absolute Wahrheit nicht. Wie genau sieht denn Anne eigentlich aus? Ist sie blond oder doch brünett? Der Häufigkeit zufolge sollte das blonde Haar schon zutreffend sein, und so verwundert es nicht, dass André im Tiefsten erschrickt, als sich plötzlich diese braunhaarige Dame als seine Tochter vorstellt, die doch nur kurz unten war um ein Huhn zu kaufen.
Gleichzeitig sind es die Wände der Wohnung, die sich zu bewegen scheinen und ständig eine neue Umgebung schaffen. Im Grunde unverändert aber doch immer wieder anders. Wieder urplötzlich befürchtet André den Auszug aus der Wohnung, da alle Möbel bereits ausgeräumt scheinen. Ein weiteres Mal widerspricht Anne und erinnert ihren Vater daran, dass diese ihre Wohnung schon immer so eingerichtet war. Er habe wohl gerade seine alte Wohnung vor Augen gehabt, in der noch Möbelstück an Möbelstück stand. Wie so häufig im Verlauf eines Tages hält André kurz inne, schaut verwundert und besorgt erst seine Tochter dann die Umgebung an, bevor er den Kopf traurig zu Boden neigt und dem Wohnzimmer endschleicht. Immer öfter trägt er auch tagsüber den Pyjama – aufgehübscht mit einer roten Fliege um den Hals. Er müsse diesen am Abend ja sowieso wieder anziehen. Da lohne sich das Einkleiden in den Anzug nicht.
Das täglichste aller Rituale ist das Suchen nach der Uhr geworden. Die Armbanduhr scheint den letzten Halt zur Realität darzustellen. Gleichzeitig ist sie Sinnbild dafür, wie sehr André den Bezug zur selbigen schon verloren hat und sich mit dem Auffinden seiner Uhr immer wieder versucht an den Moment zu klammern. Aber die Realität scheint für ihn ein fortfahrendes Schiff zu sein, zu dem er sich noch mit einem Tau verbunden fühlt, welches allerdings kontinuierlich durch seine Hände gleitet. Aufhalten kann er das Schiff damit nicht, aber er kann etwas Fühlung behalten. Trotzdem nähert sich dieses fortfahrende Schiff dem Horizont und droht mit diesem zu verschmelzen. Das schwere Tau liegt derweil im Ozean und bildet bald nur noch eine scheinbare Verbindung. Und dann plötzlich aber doch vorhersehbar platscht etwas ins Wasser. Es war das Ende des Taus.
Derweil bemüht sich Anne, für ihren Vater eine neue Tagespflegerin zu engagieren. Seit er sich mit der letzten Dame zerstritten hatte, musste sie ihren Vater zu sich nehmen. Und wieder, vor allem auch im Nachhinein, entsteht diese Verwirrung, wo denn jetzt diese Wohnung von Anne ist? Wohnt sie nun alleine in Paris oder gemeinsam mit Pierre in selbiger Wohnung? Aber hatte dieser nicht wieder eine Wohnung in London, wo sie hinziehen wollte aber nicht konnte, und wer würde sich dann um ihren Vater kümmern? Vielleicht ihre jüngere Schwester, an die André sich so gerne erinnert und an die ihn auch Laura (Victoria Fleer), die neue Pflegerin, erinnert. Wir erfahren später über Anne, dass ihre jüngere Schwester bereits vor Jahren bei einem Unfall gestorben war. Für den Vater ist sie jedoch auf Reisen und er ersehnt mit vollem Herzen ihren baldigen Besuch.
Ganz zu Berge stehen André die Haare, wenn man mit ihm wie mit einem alten, kranken Mann anspricht. Das ist er sicherlich nicht, denn er ist klar im Kopf und deshalb braucht er schon gar keine Pflegerin! Umso mehr eskaliert die Szene, als Laura ihm seine tägliche Pillenration vorhält und mit säuselndem Ton spricht: „Na schau, wer ist denn die kleine süße blaue Tablette hier? Die sieht aber niedlich aus und schmeckt bestimmt ganz fein…“ In hohem Bogen fliegen die Pillen durch das Wohnzimmer und reflektieren schallend an den Wänden bevor sie sich hüpfend und kullernd ein ruhiges Örtchen unter dem Sofa oder am Teppichrand gefunden haben. André zieht seine Hand wieder zurück, während er Laura noch immer mit bösem Blick betrachtet. Sie mag schockiert sein, wirkt dann aber auch wieder gelassen, denn sie kennt diesen Umgang und braucht nur etwas Zeit, sich an dieses persönliche erratische Verhaltensmuster zu gewöhnen.
Das Stück vermittelt uns als Zuschauer die zahlreichen Facetten des Lebens mit einem alternden Vater, der der Demenz unterworfen ist. Für den Zuschauer ist das ab und an auch lustig – und ja, selbst Anne und auch ihr Vater André kommen schon mal ins Schmunzeln. Beispielsweise als André Laura erzählt, er sei früher Stepptänzer gewesen. Nichts liegt ferner der Realität, denn tatsächlich war er Ingenieur. Und es gibt viele Momente des Wiederholens. Wie ein steter Tropfen auf einen Stein fällt, müssen ein und dieselben Sachverhalte mit Geduld wiederholt werden. Dies muss mit Nachsicht, innerer Ausgeglichenheit und wahrer Liebe getan werden, ohne von dem Gegenüber dafür eine Gegenleistung zu erwarten. Somit ist es vor allem auch für die pflegenden Familienangehörigen eine schwere Last, die es zu tragen gilt. Hoffentlich mit dem Geschenk ein paar zusätzlicher gemeinsamer Stunden. Und ganz bestimmt wertschätzt dies auch der oder die an Demenz Erkrankte. Auch wenn es schwer fällt dies zu zeigen.
Malte Raudszus
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